Paul Ricker Der letzte Bürgermeister von Stargard
Erich Müller aus
Paul Schulz: Der Kreis Saatzig und die kreisfreie Stadt Stargard.
Paul Ricker ist tot. Auch dieser aufrechte Mann wird nicht in seine Heimatstadt zurückkehren, mit der er so verwachsen war und von der er sich nicht trennen wollte. Die alten Stargarder kannten ihn wohl alle, aber nicht allzu viele werden wissen, dass er auch noch Bürgermeister in Stargard war, damals in jenen Tagen, als das Verhängnis über die Stadt hereinbrach. Lange Jahre hindurch hat er als Redakteur das „Neue Pommersche Tageblatt" geleitet und sich durch seine objektive Haltung viele Freunde erworben, ohne jedoch seinen eigenen Standpunkt aufzugeben. Als man seine Zeitung „gleichschaltete", ging er, er wollte seine Gesinnung nicht verkaufen, und zog sich auf seinen Alterssitz zurück, in das Häuschen, das er sich auf dem „Neuen Werder" erbaut hatte.
Hier wurde ich sein Nachbar. Wie oft unterhielten wir uns über den Gartenzaun hinweg, aber die Gespräche waren mehr als nur „Gespräche über den Gartenzaun", je mehr die Wolken sich über unserem Vaterland zusammenzogen und vor allem, da wir wussten, dass wir offen miteinander reden konnten.
Oft erzählte er mir von seiner vogtländischen Jugendheimat, in der er 1879 geboren wure, von seinem Beruf als Redakteur, der ihn durch eine ganze Reihe deutscher Städte geführt hatte. So war er in Mühlheim, Saafeld und Herne (Westfalen) tätig. Von den „Leipziger Neuesten Nachrichten" ging er nach Bruchsal und Lörrach in Baden, war dann Chefredakteur der „Niederschlesischen Zeitung" in Görlitz. Über Beuthen (OS) kam er nach Stargard in Pommern und übernahm hier die Schriftleitung des „Neuen Pommerschen Tageblatts".
Eine tiefe Liebe zur Natur zeichnete ihn aus. Ob er einen Spaziergang zum Stadtwald, zu den Ihnawiesen oder durch das Torfmoor, den Seefelder Tanger schilderte, ob er die weitere Umgebung einbezog, das Krampehltal, den Madüsee, aus jeder Zeile sprach seine Heimatliebe und Naturverbundenheit.
Während des Krieges sah ich ihn nur in kurzen Urlaubstagen. Immer bedrohter wurde die Zukunft. Als ich ihn zum letzten Male sprach - die Russen standen schon in Pyritz - riet ich ihm, Stargard zu verlassen. Doch er wollte die Heimat nicht aufgeben. „Ich bin nicht Pg. gewesen", sagte er mir, „was soll uns bei meinem Alter noch geschehen?" Um einer Zwangsevakuierung zu entgehen, blieb er in den letzten Tagen unsichtbar. Garten- und Haustür waren fest verschlossen. Von Zartzig-Schwendt her durch die Ihnawiesen drangen die Russen zuerst beim „Neuen Werder" in Stargard ein.
Nach mehreren Jahren bekam ich erst wieder Verbindung mit ihm. Das Schicksal hatte ihn nach Fergitz im Kreis Templin verschlagen. Von hier aus berichtete er mir dann von den letzten Tagen in Stargard vor der allgemeinen Ausweisung.
Das erste, womit ihn die Russen überraschten, waren 3 Tage Dunkelhaft, die er in einem Keller am Markt absitzen musste. Warum? Das erfuhr er ebensowenig wie den Grund dafür, daß man ihn dann zum Bürgermeister machte. Zuerst musste er von seinem Haus aus die Geschäfte führen, später, je mehr man die Zurückgebliebenen zusammenpferchte, vom Rathaus aus.
Im Juni kam dann die allgemeine Ausweisung. Seine letzte „Amtshandlung" war die Zusammenstellung und Führung des langen Elendszuges, der sich dann in Richtung Stettin in Bewegung setzte.
Über 2000 Handwagen und Fahrzeuge aller Art, dazu eine Menge Einzelgänger, setzten sich in Bewegung. Kranke und nicht Gehfähige wurden in ein provisorisches Altersheim gebracht, das in dem ehemaligen Standortlazarett in der Friedrichstraße eingerichtet wurde.
Während sich der Zug die 35 Kilometer lange Strecke nach Stettin hinschleppte, wurde er siebenmal ausgeplündert. Von Stettin aus wurde er auf die Autobahn Stettin - Bernau geleitet. Wer zusammenbrach und nicht weiter konnte, blieb liegen und konnte noch von Glück sagen, wenn es ihm gelang, sich in ein benachbartes Dorf zu schleppen, sonst fand er hier sein Ende.
Als auch seine Frau unterwegs zusammenbrach, konnte er sie noch zu dem Gut Pfingstberg bringen, wo sie beide Unterkunft fanden. Als man in der Zone die Güter enteignete, kam er nach Fergitz. Hier verlebte er seine letzten Jahre.
Sein einziger Wunsch, von dem er immer wieder schrieb, war, noch einmal Stargard wiederzusehen. Er sollte es nicht erleben!
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