Gefangenenlager in Stargard nach 1945
Dietrich Otto
Heimatkreisbearbeiter Stargard
12.6.2008
Die Informationen zu diesem Artikel habe ich von Matthias Gericke erhalten.
Erlebnisbericht von Wilhelm Feldbusch
Wilhelm Feldbusch
Weitershainerstraße 32
35446 Rabenau - Rüddingshausen
Fon 06407-7595
buchsibirien@aol.com
Der vollständige Bericht ist unter http://home.arcor.de/buchsibirien/Auszuege.htm zu finden.
Am 2. Mai 1945 gerät Wilhelm Feldbusch in amerikanische Kriegsgefangenenschaft auf einem Brückenkopf, den die Amerikaner am östlichen Elbufer nahe Wittenberge errichtet hatten. Die Gefangenen werden von den Amerikanern an die Russen übergeben. Damit beginnt sein Leidensweg, der ihn bis nach Sibirien führt. Herr Feldbusch hat mir bestätigt, dass es sich bei dem Gefangenenlager um die Königin-Luise-Schule handelt. Hier beginnt sein Bericht:
Wir sind schon circa 14 Tage unterwegs und allmählich geht der lange Hungermarsch zu Ende. Wir kommen nach Stargard in Pommern. Wir laufen durch die ganze Stadt, die inzwischen von polnischen Zivillisten besetzt wird, denn Stargard gehört jetzt zu Polen. Auf der rechten Seite unseres langen Zuges, da wo die Gefangen dicht an den Häusern vorbeigehen, erscheint in einem schmalen Hausflur eine Frau in der Tür und reicht denen, die gerade in ihrer Nähe sind, ein paar Stückchen helles Brot. Etliche Hände strecken sich danach aus, doch es reicht nur für zwei oder drei Leute. Ich gehe gerade auf der anderen Seite des Zuges und habe kein Glück, etwas davon abzubekommen. Aber ich freue mich, dass es doch noch ein paar Deutsche in Stargard gibt, die Mitleid mit den Kriegsgefangenen haben.
Wir kommen an eine ehemaligen Schule. Sie stammt wahrscheinlich noch aus der Kaiserzeit und ist ein stattliches Gebäude mit einer Menge gehauener Steine an den Ecken und um die Fenster. Sie hat zwischen den einzelnen Gebäudeflügeln einen schönen runden aber auch hohen Turm, welcher wahrscheinlich das Treppenhaus enthält und sehr gut zu dem übrigen Bild der Schule passt.
Königin-Luise-Schule, Gefangenenlager nach 1945
Als wir den eingezäunten Schulhof betreten, bekommen wir jedoch einen großen Schrecken. Im Hof sind zwei große Latrinengruben ausgehoben, mit waagrechten Stangen rundherum, den so genannten Donnerbalken. Die Gruben sind voller Blut. Wir wissen sofort, dass hier die Ruhr herrscht. Die Gefangenen, die schon vor uns da waren, hatten alle die Ruhr, es ist jedoch niemand mehr von ihnen zu sehen. Wahrscheinlich gab es unter ihnen auch Tote, und die Überlebenden sind sicherlich schon auf dem Weg nach Russland. In den Gruben schwimmen eine Menge deutscher Geldscheine und wir wundern uns, wie die da hineinkommen. Doch wir sollen es sehr bald erfahren.
Wir werden auf die Klassenzimmer verteilt und legen uns wegen der starken Erschöpfung gleich auf den harten Fußboden, um ein bisschen auszuruhen. Wir bekommen wieder einige Stückchen von dem harten getrockneten Brot und dazu Wasser. Zu diesem Brot muss man eine Menge Wasser trinken, denn das Brot saugt sich förmlich mit Wasser voll. Der Durst ist nach dem langen Marsch ebenfalls groß. Wer ein bisschen Erfahrung hat oder sich in medizinischen Dingen auskennt, weiß, dass die Ruhr nur mit dem Trinkwasser zusammenhängen kann. Doch der Durst ist größer als jede Vorsicht und im Handumdrehen haben wir alle die Ruhr.
Das große Rennen zur Toilette geht los. Mancher der am Anfang noch etwas überflüssiges Papier hat, ist dies bald los, aber das Rennen geht weiter und so bleiben nur noch die Geldscheine, von denen jeder Landser mehr oder weniger viele gehortet hat. Man weiß ja nie, ob man nicht doch noch dafür Verwendung haben könnte. Auch ich werde auf diese Weise mein Geld fast restlos los. Wir liegen hier in Stargard schon einige Tage fest, und es sieht ganz so aus, als wäre der Marsch zu Ende. Wenn nur die Ruhr nicht gekommen wäre.
Es sterben die ersten Kranken und es werden immer mehr. Wenn ich mich in der Nähe des Tores aufhalte, sehe ich, wie sie auf russischen Panjewagen weggefahren werden. Ich möchte dieses Schicksal nicht teilen und beschließe, nichts mehr zu essen und besonders nichts mehr zu trinken. Ich verkrieche mich in den Keller des runden Turmes, wo keine Fenster mehr sind und die Luft feucht und kühl ist. Es ist aber auch dunkel, und ich gewöhne mich erst langsam an die Dunkelheit. Indem ich die Wände und den ganzen Raum mit den Händen abtaste, stelle ich fest, dass wohl einer der hier tätigen Lehrer ein Angler gewesen sei muss, denn es steht allerhand Anglergerät an den Wänden.
Ich komme nur noch aus meinem Versteck, wenn ich zur Latrine muss und bei einer solchen Gelegenheit höre ich, dass ganz in der Nähe der Schule einige geschlossene Viehwaggons angefahren wurden. Jetzt muss ich aber aufpassen, dass ich den bevorstehenden Abtransport der Gefangenen per Bahn nicht verpasse. Es ist allemal besser weiter von hier weg, auch gegen Osten, verfrachtet zu werden, als an der Ruhr zu sterben. Am nächsten Tag habe ich Glück, und es gelingt mir, mit den ersten Gefangenen den langen Güterzug zu erreichen und im Viehwaggon eingesperrt, die Abreise antreten zu können.
Mit diesem Abtransport ging der lange Hungermarsch, quer durch das nördliche Deutschland von der Elbe bis nach Polen, zu Ende. Unser Weg führte durch die Städte Perleberg, Pritzwalk, Wittstock, Mirow, Wesenberg, Neustrelitz, Neubrandenburg, Straßburg, Pasewalk, Stettin, Stargard und durch viele Dörfer. Wir sind die ganze Strecke eher getrieben worden, als dass wir gelaufen sind. Mancher der Gefangenen hat diesen langen Hungermarsch nicht überlebt. Wir legten insgesamt 250 km zurück.
Erlebnisbericht von Siegfrid Petersen
aus "Endstation Oderfront"
Gerald Ramm
Rüdersdorferstr. 105
15569 Woltersdorf
Fon: 03362-5479
info@gerald-ramm.de
Siegfrid Petersen kam im Februar 1945 mit ca. 16 Jahren zu einem Ausbildungsregiment der Division "Herman Göring". Bei den Endkämpfen geriet er am 30. April 45 in der Schorfheide in russische Kriegsgefangenenschaft und von dort ging der Weg über die Oder. Am 7. Mai abends war die Gruppe in Greifenhagen. Von dort ging es am 8. Mai weiter. Mitte Mai kam der Zeitzeuge nach Deutsch-Eylau, durchlief mehrere Lager bis er im Dezember 1947 wieder zu Hause war. Hier beginnt sein Bericht:
Wir sind wieder morgens bei Hellwerden aus den Quartieren geholt worden, zu Fünfen antreten, zählen lassen. Frühstück gibt es keins, und dann ging es wieder raus auf die Landstraße. Als die Sonne schon ziemlich hoch stand - wir meinten, es müsste gegen Mittag sein - kamen wir an einen See, und als wir eine Ausflugsgaststätte passierten, die dort am Seeufer liegt - der "Gasthof zur goldenen Maräne" am Madüsee - hieß es plötzlich anhalten.
Eine Weile passierte gar nichts, dann riefen sich russische Posten, die sich rings um uns verteilt hatten, irgendetwas zu - und dann sagte unser Herbert, der sie wohl verstanden hatte, plötzlich ganz ungläubig: "Mensch - die sagen, der Krieg ist zu Ende" - und da ging bei den Posten auch schon ein Geschrei und Gejubel los, dass uns richtig ungemütlich wurde. Ungemütlich vor allem deswegen, weil sie jetzt alle anfingen, vor Freude mit ihren Gewehren und MPis in die Luft zu ballern, was die Magazine hergaben, und das waren sicher keine Platzpatronen. Irgendwo musste das ja wohl alles wieder runterkommen. Als sich das ganze ein wenig beruhigt hatte, ging der russische Offizier, der unsere Kolonne befehligt (mittlerweile weiß ich auch, dass es ein Unterleutnant ist) an unseren Reihen entlang und versuchte, uns die Neuigkeit bekannt zu geben, und sein "Alle hjoren jetzt - Krieg kaput!" haben ja wohl alle verstanden. Also ist nun wohl wirklich der Krieg zu Ende, und Deutschland hat ihn verloren und was machen die jetzt mit uns? Dann könnten sie uns doch eigentlich nach Hause lassen?. Aber weitermarschiert sind wir natürlich nach Osten.
2005: Jobstschule in der Schröderstraße, Gefangenenlager nach 1945
Stargard (Pommern), 8. Mai abends
Wir sind seit dem Madüsee noch ein ganzes Stück weiter marschiert, bis nach Stargard, und hier haben sie uns bei Dunkelwerden in eine große Schule gesteckt, in der schon viel mehr von uns waren. Angeblich sollen hier dreitausend Mann sein. Die Schule heißt "Johst-Schule", aber ich weiß nicht mal, ob das ein General oder ein Gelehrter war, der Herr Johst. Weil wir als letzte angekommen sind, mussten wir uns natürlich in der Dunkelheit wieder auf dem staubigen Boden unter dem Dach einrichten, und verdammt eng ist es da oben auch; aber es sieht ganz so aus, als sollten wir längere Zeit bleiben. Im Schulkeller haben sie eine große Küche mit lauter Waschkesseln eingerichtet, und vor dem Schlafengehen hat jeder einen Schlag Suppe und ein Stück Brot gekriegt. Mal sehen, wie das mit dem Essen so weitergeht. Weil wir ja nun fast den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang gelaufen sind, sind wir alle hundemüde.
Siegfrid Petersen hat den Bericht noch ergänzt:
Viel Staub und fast unerträgliche Temperaturen, dazu in der ganzen Schule kein Wasser; wir sehen nach unseren 8 Tagen Marsch aus wie die Schweine. Das Küchenwasser wird in Fässern herangefahren, zu trinken gibt es einen halben Liter Wehrmachts-Einheits-Gesundheits-Tee-Ersatz, waschen und rasieren (letzteres bei mir zum Glück noch nicht nötig) fallen weiterhin aus. Wir sehen mittlerweile aus wie eine mittelalterliche Räuberbande.
Täglich werden ein paar Leute für irgendwelche Arbeiten in der Stadt gesucht, und eines Tages habe ich Glück und bin dabei. Aus den Häusern einer Straße, die ja alle verlassen sind, sollen die noch brauchbaren Möbel zum Abtransport auf die Straße gestellt werden. Die Möbel interessieren mich dabei weniger, obwohl ich sie, um nicht aufzufallen, natürlich fleißig mitschleppe; aber in manchen Schränken sind noch Bücher, und darunter räume ich für mich auf. Als wir am Abend ins Lager zurückkommen, habe ich einen ganzen Rucksack voll Literatur - und kriege ihn sogar mit durch die Kontrolle am Eingang...
Damit hat sich für mich das Kapitel "Arbeit" zunächst einmal erledigt. Wenn ich genug zu lesen habe, brauche ich nicht allzu viel anderes zum Leben. Am meisten fesselt mich Shakespeares "Summer Nights Dream" in Englisch. Ja, wenn man Papier und Schreibzeug hätte, könnte man den übersetzen, das wäre Beschäftigung für Wochen.
Aber Papier und Schreibzeug hat keiner mehr. Nicht nur das - alle Messer (bis auf ein paar vorsorglich versteckte), alle Rasierapparate, alle Scheren, überhaupt alles, womit man sich oder andere verletzen könnte, haben sie uns abgenommen, als wir ankamen. "Deitsche so: gib alte Naggel, macht Gewehrmaschin!", sagte einer der Russen, die diese Filzerei machen.
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