In Stargard 1945 als Gefangener
Erinnerungen eines deutschen Kriegsgefangenen an den schicksalhaften Frühling
Aus der Pommerschen Zeitung vom 25. März 1972
Aus den ersten Tagen ist mir noch eine Episode in Erinnerung: Zum ersten Mal hatten wir seit längerer Zeit Brot bekommen, ein Kastenbrot jeweils für zehn Mann. Wie aber nun verteilen? Niemand besaß ein Messer, denn gleich zu Anfang der Gefangenschaft hatte man uns unter Androhung der Erschießung Messer und Gabeln abgenommen. Nur den Löffel durften wir behalten. Im Gebüsch des Schulgrundstücks fanden wir einen alten verrosteten Tonnenreifen. Wir brachen ein längeres Stück davon ab, machten es auf der nassen Erde blank, um dann mit der scharfen Kante die Brotscheiben abzusägen. Tags die Hitze, nachts der Regen, der uns bis auf die Haut durchnässte, so lagen wir dann zähneklappernd auf der nassen Erde, dazu bei den Menschenmassen das Fehlen sanitärer Anlagen. Es kam, was kommen musste, es brachen ansteckende Krankheiten aus. Besonders die blutige Ruhr grassierte. Auch unsere Ecke hatte sie bald erwischt. Ich entsinne mich, wie wir immer schwächer wurden und uns nicht mehr von der Erde erheben konnten.
Massengräber in Stargard´s Gärtnerei
Eines Tages sah uns eine russische Ärztin. Die veranlasste, dass wir auf einen „Panjewagen“ in das unweit gelegene städtische Krankenhaus gebracht wurden. Nur in den Kellerräumen waren da noch Plätze frei. Aber wir bekamen nun doch einen Strohsack und hatten ein Dach über dem Kopf. Die Behandlung der Kranken war korrekt. Leider bestand ein erschreckender Mangel an Medikamenten. Zu essen gab es hartgedörrtes Brot. Hier lag ich etwa 3 bis 4 Wochen. Die Sterbeziffer war groß. Als ich schon soweit genesen war, dass ich aufstehen und umhergehen konnte, da sah ich auch, wo die Toten blieben. Hinter der Leichenhalle war eine große Gärtnerei, da waren die Massengräber angelegt. Nachdem die Toten in der Leichenhalle splitternackt ausgezogen worden waren, wurden sie von deutschen Landsern schichtweise in die Gräber gelegt und dann mit Chlorkalk und etwas Erde bedeckt. Die Kleidung der Toten wurde neben der Leichenhalle in einem großen Kessel über offenem Feuer ausgekocht.
Schlimm war die Läuseplage, die sich hier in Ermangelung chemischer Bekämpfungsmittel unerträglich ausbreitete. Es gab eine „Banja“ (Bad). Das war eine gleich an der Straßeneinfahrt errichtete Baracke. Hier erhielten wir dann und wann eine Schüssel mit warmen Wasser und ein Groschengroßes Stück selbstgekochter Seife zur Körperwäsche. Währenddessen kamen unsere Kleider in den danebenstehenden Entlausungsofen. Das Warmwasser wurde in einem senkrecht stehenden Fabrikkessel, der zwischen „Banja“ und dem modernen Klinkerbau aufgestellt war, bereitet. Dies offene Feuer übte eine magische Anziehungskraft auf die Gefangenen aus: Rasch huschten immer wieder hungrige „Plennis“ herbei, um sich in ihrem Kochgeschirr oder einer Konservendose irgendetwas Essbares mitzukochen. Was das war? In den zerstörten Gewächshäusern der Gärtnerei stand noch aus deutscher Zeit in üppiger Fülle Spinat und manche hatten auch in den Kellern der umliegenden verlassenen Häusern ein paar Kartoffeln gefunden. Die meisten Iwans duldeten dies stillschweigend, nur manche kamen mit Knüppeln herbeigestürzt, Fluchworte brüllend. Eins aber soll nicht verschwiegen werden: Es gab deutsche „Sanitäter“, die sich beim Iwan ein Pöstchen besorgt hatten. Die waren oft brutaler zu ihren deutschen Mitgefangenen als die Russen selbst.
An den Feuerungsstellen wurde fast ausschließlich mit zerschlagenden Möbeln oder bearbeiteten Werkhölzern geheizt, obwohl in den umliegenden Wäldern reichlich Brennholz vorhanden war. Nicht nur hier in Stargard, sondern auch in anderen Orten hatten wir beobachtet, dass man die Möbel einfach aus den Wohnungen auf die Straße stürzte. Wir waren alle schon gleichgültig geworden, aber ergriffen hat es uns doch, als eines Tages am Entlausungsofen das Gehäuse eines wertvollen Blüthnerflügels verfeuert wurde.
Die letzten Deutschen in Stargard
Die deutsche Bevölkerung der Stadt, soweit sie das Inferno der letzten Wochen überlebt hatte oder von der Flucht zurückgekehrt war, hatte man in einzelne Häuser wie in Gettos zusammengepfercht. Dann und wann hörten wir nachts durch unsere weitgeöffneten Fenster Schreckensschreie von Frauen und Kindern. Marodeure waren zu ihnen eingedrungen und drangsalierten die armen Menschen. Diese entsetzlichen Hilfeschreie durch die Stille der Nacht haben uns alle, besonders jene, die selbst Frau und Kinder hatten, zutiefst erschüttert.
Der Eisenbahnverkehr war langsam wieder in Gang gekommen, man hörte es an den Heultönen der Lokomotiven. Ende Juni wurden wir eines Nachts plötzlich verladen und in Güterwagen in Richtung Osten abtransportiert. Ja, und was dann auf uns zukam, das alles lag außerhalb unserer pommerschen Heimat.
G.
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