Die letzten 30 Jahre vor 1945

Joachim Stampa
aus Stargard in Pommern "Schicksale einer deutschen Stadt" 1978

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Für Stargard's Entwicklung brachte der erste Weltkrieg kaum einen Rück-, aber auch keinen Fortschritt. Die Soldaten lagen in Flandern und an der Somme, am Isonzo und in Galizien. Nach der Schlacht bei Tannenberg wurde auf dem späteren Sportplatz an der Bergstraße ein großes Lager für kriegsgefangene Russen aufgestellt, das von Landsturmmännern bewacht wurde. An den Ecken standen auf zusammengekarrten Hügeln Kanonen. Auch auf dem Marktplatz standen neben dem Germania-Denkmal jahrelang zwei Geschütze, Kriegstrophäen. Wie alle Deutschen litt die Stargarder Bevölkerung unter den Kriegsereignissen, feierte die Siege mit Fahnen und Glockengeläut und duckte sich später unter dem Eindruck der Niederlagen mit Zagen und Raunen, hungerte während der Blockade und politisierte nach der Revolution.

Kriegerdenkmal Germania

Germania-Denkmal (ohne Kanonen)

Das Kriegsende kehrte in Stargard auch nicht alles um. Oberbürgermeister Kolbe blieb im Amt. Allerdings hatte er sich jetzt mit viel mehr Sorgen und Parteien herumzuschlagen als bisher, doch hielt er das Steuer der Stadt fest in der Hand.

Der Bildersturm auf die Symbole des gestürzten Kaiserreichs ging glimpflich vorüber. Nicht einmal der Gedenkstein an den Kaiserbesuch 1911, der auf dem Fleischmarkt stand, verschwand. Er stand noch bis 1945. Einmal allerdings wurde versucht, die Kaserne zu stürmen. Drahtverhaue und Spanische Reiter erzählten noch lange von der Unsicherheit jener Tage.

Pommern wurde nach Versailles wieder Grenzprovinz gegen Polen, und die deutsche Bevölkerung des abgetrennten Gebietes von Westpreußen und Posen musste im Altreich untergebracht werden. Dadurch kamen viele Ostflüchtlinge, sogenannte Optanten, nach Pommern. Stargard mit seinem großen Eisenbahn-Ausbesserungswerk nahm viele auf und gab ihnen Unterkunft und Arbeit. Zu der bisherigen Jobstvorstadt, die vorwiegend von Eisenbahnern bewohnt war, kam jetzt eine neue Siedlung westlich der Bahnstrecke, die "Eisenbahn-Siedlung". Dazu kam wenig später die „Städtische Siedlung" zwischen der Stettiner Straße und dem Friedhof an der Schelliner Straße westlich der Grenadierkaserne. So entstand hier ein außerordentlich großes Neubaugelände mit sehr engmaschigem Straßennetz. Jede Wohnung besaß hinter dem Haus einen massiven Stall und ein Stück Gartenland. Durch diesen neuen Stadtteil vergrößerte sich das Stadtgebiet gegenüber der bebauten Fläche von 1914 nahezu auf das Doppelte, aber zunächst wurde nur Mietshaus neben Mietshaus gesetzt, für öffentliche Gebäude war noch keine Zeit - und auch kein Geld vorhanden.

Die Heilig-Geist-Gemeinde, zu der die gesamte Siedlung gehörte, versuchte, der Not an Kirchenraum Herr zu werden, indem sie an der Stettiner Straße einen Andachtsraum, das Lutherhaus, errichtete. Das außerordentlich einfache Gebäude mit flachem Dach und ohne Turm war wirklich keine Kapelle oder gar eine Kirche, sondern ein „Haus" für gemeindliche Zwecke. Ein Kirchenbau war wohl geplant, wurde aber bis 1945 nicht verwirklicht.

Allerdings wurde eine große Doppelschule, die Siedlungsschule, hergestellt, aber alle anderen öffentlichen Bauten für Verwaltung, Polizei, Post usw. waren zwar vorgesehen, wurden aber nicht mehr angefangen.

Siedlungsschule

Siedlungsschule

Da die Bevölkerung bis 1930 auf fünfunddreißigtausend Einwohner angewachsen war, wuchsen naturgemäß auch die Behörden mit, aber leider nicht die Verwaltungsgebäude. 1938 gehörten zur Stadtverwaltung siebenhunderteins Beamte, Angestellte und Arbeiter. Die hatten naturgemäß nicht mehr im Rathaus Platz. Zuerst wurden die beiden Giebelhäuser zwischen der Alten Wache und der Marienkirche hinzugenommen. Das reichte aber auch nicht lange, und schließlich wohnten die städtischen Dienststellen in insgesamt elf verschiedenen Gebäuden, verstreut in der Stadt. Der Neubau eines großen Rathauses, das noch Platz für künftige Erweiterung bot, konnte kaum noch aufgeschoben werden, aber alle Pläne wurden durch den Zweiten Weltkrieg zu Rauch. Lediglich im Dachgeschoss des Rathauses wurde ein neuer Sitzungssaal für die auch angeschwollene Stadtverordneten-Versammlung ausgebaut, nur aus Holz und Dämmplatten konstruiert. Wegen der hohen Feuersgefahr hingen in den Vorräumen griffbereit mehrere Handfeuerlöscher, und unter dem Rednerpult lag stets eine Strickleiter, damit die hohen Herren notfalls durch das bunt verglaste Fenster auf die Große Mühlenstraße retirieren könnten. Außer von der Feuerwehr ist dieser Notausgang leider nie geprobt worden. Es hätten sich sicherlich viele Zuschauer dazu eingefunden!

Neben den Erfordernissen der sozialen Wandlung nach dem Ersten Weltkrieg war erfreulicherweise immer noch Geld vorhanden für die Verschönerung der Stadt. Die vernachlässigte Front des Marktplatzes von der Marienkirche bis zur Kramerstraße und Großen Mühlenstraße wurde wieder in Ordnung gebracht. Die beiden Blendgiebel von Markt 13/14 wurden entfernt und stilgerechte neue Einzelgiebel daraus gemacht. Nun hatte Stargard eine Schaufront, wie man sie sonst im Lande suchen konnte. Die Wände des Arkadengangs der Alten Wache wurden mit gelblichem Juramarmor belegt, da das Mauerwerk den Anstrich immer wieder zerfraß. Das Rathaus wurde ringsherum gesäubert und neu gestrichen. Dabei kam das richtige Stadtwappen in die Fensterblende des Westgiebels.

Auch die beschädigte Fassade des „Ältesten Hauses" in der Großen Mühlenstraße wurde bereinigt und erneuert. In den beiden alten sogenannten Organistenhäusern hinter der Marienkirche wurde mit beträchtlichem Geldaufwand und viel Liebe in zweiundzwanzig Räumen ein Heimatmuseum eingerichtet. Hier standen viele wertvolle und unersetzliche Erinnerungsstücke aus der Stadtgeschichte und dem Kreise Saatzig, dem Leben der Zünfte und heimatkundlichen Gebieten zur Schau.

Das Mühlentor wurde von den entstellenden Ein- und Anbauten von 1861 befreit. In seinem Inneren entstand ein Jugendheim.

Da das Offizierskasino der Garnison von seinem Haus am Eisturm, ehemals dicht bei Blüchers Exerziergarten, dichter an die Grenadierkaserne, nämlich in die Villa des ehem. Fabrikbesitzers Wischer an der Stettiner Straße umzog, konnte das nun freigemachte Gebäude am Blücherplatz ebenfalls zu einem „Haus der Jugend" umgebaut werden.

Offiziersheim

Zeichnung Jürgen Willbarth

Die Einfriedigungsmauer des Kasinogartens wurde eingerissen und die Anlagen des Blücherplatzes bis zum Pyritzer Tor erweitert. Nun war der Rundgang um die Altstadt im Kranz der ehemaligen Befestigungen fast geschlossen. Es fehlte nur noch das Stück zwischen dem Mühlentor und dem Weißkopf, wo man „hinter der Mauer" zu bleiben hatte. Beim Mühlentor stieg man über zweiundfünfzig Stufen auf den Nachtigallensteig, der bis zum Großen Rondeel am Johannistor reichte, wo das Bismarckdenkmal und der schöne Ahornbaum stand. Von hier aus ging man entweder über das Johannistor mit seinem fabelhaften Fernblick auf den Stadtwall, oder man überquerte die Johannisstraße bei der Volksbücherei und kam beim Springbrunnen in die "Anlagen am Roten Meer". Vom Wall kam man an die Heilig-Geist-­Straße bei Bäcker Kootz. Unmittelbar beim Pyritzer Tor ging es den Berg hinunter zum Blücherplatz, parallel zum Wollweberberg jenseits der Mauer. Der Blücherplatz war mit seinem reichen Blumenschmuck und den seltenen Bäumen eine Visitenkarte der Stadtgärtnerei. Am Gefallenendenkmal vorbei, das ebenso an den früheren Exerziergarten des Marschall Vorwärts erinnerte wie an die Gefallenen Schlachten bei Gravelotte, Belle-Alliance und Mars-la-Tour, wurde die Ihna auf der Jungfernbrücke überquert und in den Weidensteig eingebogen, der nun an der Ihna entlangführte über das Neue Tor bis zum Walltor. Gleich hinter der Jungfernbrücke erstreckte sich rechter Hand der weite Bismarckplatz, die ehemaligen Toltzwiesen.

Dass der Erdboden, in dem die Kastanien und Ahorne des Weidensteigs wurzelten, vor Jahrhunderten von Stargardern in Fronarbeit, gezwungen von der harten Faust des Grafen Piccolomini, ausgegraben und aufgekarrt worden war, um der Ihna ein neues Bett zu geben, daran dachte keiner mehr. Jetzt war es der bevorzugte Spazierweg der Stargarder.

Weidensteig

Hinter der Freiarche war selten Wasser in der Ihna. Da rieselte nur etwas Wasser zwischen Steinen und Stauden silbrig glitzernd dahin. Nur wenn alle paar Jahre der Mühlenteich beim Mühlentor ausgeleert werden musste, ließ der Müller die Schützen im Wehr hochziehen, und dann lief die Ihna hier voll und der Stadtarm leer. Wo der Weidensteig auf die Luisenstraße mündete, musste der Spaziergänger einige Schritte nach links auf das Walltor zu gehen, die Ihnabrücke überqueren und konnte dann am jenseitigen Ufer in den ehemals Laurinschen Garten, das „Gaebel-Ufer" einbiegen. Auf dem hier beim Weißkopf gelegenen Rondeel begann die eine öffentliche Rodelbahn im Winter. Die zweite war beim Lyzeum.

Hinter dem Weißkopf konnte noch der Steingarten besucht werden, und dann musste man wieder durch die Stadtmauer zurück und die Nordmauerstraße bis zum Mühlentor auf Katzenkopf-Pflaster weitergehen. So ein Rundgang um die Altstadt dauerte etwa eine Stunde.

In diesen Jahren wurden erneut die Stadttore und -Türme nachgesehen und neben den Toren Fußgänger-Durchbrüche durch den Stadtwall beim Johannistor und durch die Stadtmauer beim Pyritzer- und dem Walltor geschaffen. Der Fahrverkehr auf dem Damm hatte mehrfach Fußgänger in Gefahr gebracht. Der Turm Rotes Meer hatte schon 1860 einen Durchgang für Fußgänger bekommen, damit die obere Holzmarktstraße einen Ausgang zum Bahnhof hin bekam. Hier wurde damals aber das Loch direkt in den Sockel des Turms geschlagen, nicht wie jetzt in die Mauer daneben. Von da an konnte in Stargard jedermann täglich trockenen Fußes das Rote Meer durchqueren wie weiland die Kinder Israel es während einer einzigen Nacht gekonnt hatten.

1938 wurde der vierzigtausendste Stargarder Einwohner im Standesamt registriert, ein kleines Mädchen, dem die Stadt ein volles Ausbildungsstipendium in die Wiege legte. Leider wurde auch dieses später zu Rauch.

Als die Stadtbank auf höhere Weisung ihren Bankbetrieb einstellen musste und nur noch Sparkassendienst versehen durfte, wurde das Kapital der Bank zum Bau eines modernen Hallenschwimmbades an der Stettiner Straße verwendet. Dazu kam noch eine große Liegewiese und ein Sonnenbad mit Ostsee-Strandsand, welcher in Lastwagenzügen von der pommerschen Küste bei Kammin herangeschafft wurde. Zur Abrundung des Erholungszentrums wurde auch noch eine vorbildliche Gaststätte hinzugebaut.

Hallenbad

Städtisches Hallen- und Sonnenbad, gesehen vom Langemarckplatz.
In der Mitte hinter den Glastüren die Schwimmhalle mit sechs 25­m-Bahnen. Links hinter den Fenstern Plansch- und Lehrschwimmbecken, ganz rechts die Hallenbad-Gaststätte. Eröffnung 1938.

In der aufblühenden Stadt kamen auch die schönen Künste wieder zu ihrem Recht. Stargard übernahm unter den pommerschen Städten die Patenschaft für  das pommersche Kunsthandwerk, veranstaltete Wettbewerbe, Ausstellungen und andere Förderungen. Aufträge für schaffende Künstler aller Art brachten wieder neue Werke in die Stadt. Theater und Konzerte lockten in jeder Winterspielzeit Tausende von Besuchern in die Säle. Auf die Dauer war auch der Bau eines Kulturzentrums nicht zu umgehen. Alles wurde zu Rauch.

Oberbürgermeister Dr,Gerhard Völker

Bürgermeister Dr. Adolf Stahmann

1936 trat der verdiente Oberbürgermeister Albert Kolbe in den Ruhestand. Sein Nachfolger und damit der dritte Oberbürgermeister von Stargard wurde mit einunddreißig Jahren Dr. jur. Gerhard Völker aus Stettin. Dieser führte zusammen mit dem Bürgermeister und Stadtkämmerer Dr. jur. Adolf Stahlmann die Stadtgemeinde weiter bis zum Ende 1945. Während des Zweiten Weltkrieges war Völker als Soldat an der Front und wurde wegen Tapferkeit vor dem Feinde mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet. In diesen schweren Jahren musste die ganze Amtsbürde Dr. Stahlmann allein tragen.

Zwar war Dr. Völker durch die NSDAP in sein Amt berufen worden, aber er dachte gar nicht daran, immer nach der Pfeife der Partei zu tanzen. Das führte zu ständigen Spannungen, denn Völker beugte sich nicht den Wünschen und Befehlen, sondern führte die Aufgaben im Sinne der Stadt und ihrer Bürger ohne Rücksicht auf seine Person. Seine Entfernung aus dem Amt war für die Partei beschlossene Sache und wurde nur aufgehalten durch seine militärischen Leistungen und Auszeichnungen. Die NSDAP hat ihm das Leben so schwer wie nur irgend möglich gemacht, aber Dr. Völker machte nicht Platz für einen neuen Parteimann, der es bestimmt schlechter als er gemacht hätte. In diesem Sinne gebührt Dr. Völker Dank für seine Zähigkeit.

Im Zuge der allgemeinen Aufrüstung war nach Stargard ein zweites Bataillon des Panzergrenadierregiments 25 gelegt worden nebst dem Regimentsstab. Dazu erbaute der Staat in der Scharnhorststraße dicht am Großen Exerzierplatz die weitläufige Seelhorstkaserne. Das andere Bataillon lag in der Grenadierkaserne an der Moltkestraße.

Seelhorstkaserne

Seelhorstkaserne

Da fuhr eines Nachmittags im Spätsommer 1939 ein Wehrmachts-Motorradfahrer mit einem Hornisten durch die Straßen und blies Alarm. Überall, in allen Gastwirtschaften und Kinos wurden die ausgegangenen Soldaten zur Kaserne gerufen, und noch am selben Abend bei fallender Dämmerung bewegte sich eine lange schweigende Kolonne von Militärautos durch die Bahnhof-, Hindenburg- und Königstraße nach Zartzig hinaus. Die Stargarder Garnison rückte ins Feld. Frauen am Straßenrand weinten, die Männer hatten ernste Gesichter. Der Krieg begann, der Zweite Weltkrieg. Noch in der gleichen Nacht gegen Mitternacht
erhielt auch der Verfasser durch einen nächtlichen Postboten seinen Gestellungsbefehl.

Das war der Anfang vom Ende.

In mancher Nacht gingen die Luftschutzsirenen, und die Stargarder lernten, in die Luftschutzkeller zu kriechen. Feindliche Flugzeuge brummten über der Stadt, nachts hörten die angsterfüllten Menschen über Stettin die Bomben fallen und sahen, wie sich der Himmel rot färbte, hin und wieder sogar von Berlin herüber Bombenlärm und Feuersbrunst. Am hellen Tage flogen im Sommer 1944 amerikanische Fliegerverbände einen Angriff auf den Flugplatz von Klützow und belegten ihn und das daneben in den Kasernen entstandene Industriewerk mit Bomben. Drei Flugzeuge wurden über Stargard abgeschossen. Eins davon stürzte genau auf das Bürohaus der Brennerei F.J.Mampe am Großen Wall.

Das Kriegsgefangenenlager auf dem Jahnplatz war längst nicht mehr vorhanden. Seit langem wurde hier Spiel und Sport betrieben. In diesem Kriege wurde ein neues Kriegsgefangenenlager auf dem Großen Exerzierplatz nördlich vom Kunower Weg angelegt. Es reichte bis nahe an die Stettiner Chaussee bei den Rasenbänken heran. Polen, Jugoslawen, Franzosen, Italiener, Russen, Engländer und Amerikaner wurden hier im Laufe der Jahre bewacht und auf Arbeitskommandos verteilt.

Geplantes Stadtwappen 1943
Geplantes Stadtwappen 1943

Stempel 700 Jahrfeier

Mitten im Kriege beging Stargard seinen Geburtstag, die Siebenhundertjahrfeier. 1943 wurde vom 20. bis 27.Juni eine ganze Festwoche veranstaltet mit Kunstausstellung, Festkonzerten, Festsitzungen des Ratskollegiums, historischem Abend, Sport, Musik und Fahnen. Leider war ja Krieg, sonst wäre es eine wirklich festliche Woche geworden. Stargard musste den Geburtstag ohne Festschrift feiern, denn das Papier war zu knapp. Auch die Geschichte Stargard's von Martin Wehrmann, die er noch kurz vor seinem Tode abgefasst hatte, fiel unter das Verbot. Sie wurde ebenfalls zu Rauch: Lediglich ein Sonderstempel der Post wurde zugelassen, und ein  Extrablatt der Zeitung erschien.

In den Grünanlagen und auf den Plätzen der  Stadt ging zu dieser Zeit manches vor sich, was man noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Uberall wurden Luftschutz-Deckungsgräben ausgeschachtet, damit bei einem plötzlichen Luftüberfall gerade auf der Straße befindliche Passanten und Anwohner, deren eigene Schutzmöglichkeiten unzureichend waren, darin Schutz vor Bomben und Beschuss finden könnten.

Luftschutzbunker

Bei dieser Gelegenheit traten unversehens Zeugnisse vergangener Zeit wieder an das Tageslicht. Auf dem Platz vor der Oberrealschule am unteren Rosenberg wurden dabei die Fundamente der vor mehr als einem Jahrhundert abgerissenen Augustiner-Klosterkirche mehrfach angeschnitten und bedenkenlos durchtrennt. Die dabei freigelegten Gebeine verstorbener Kirchenmänner wurden an anderer Stelle wieder bestattet, aber die alten Formsteine der großen Kirche lagen dutzendweise auf dem Platz herum, mussten unbeachtet liegen bleiben, denn zu Vermessungen und Aufnahmen war keine Zeit mehr.

Mitten auf dem Blücherplatz waren zwei solche mehrere Meter tiefe Deckungsgräben ausgehoben worden. Dabei zeigte sich an allen Schnittflächen deutlich das V-förmige Profil des ehemaligen Festungsgrabens, der hier entlang bis mindestens zum Pyritzer Tor geflossen war. Der Provinzialkonservator wurde zwar von diesen Funden noch in Kenntnis gesetzt, aber außer einem interessierten Antwortbrief konnte auch von da aus nichts erfolgen.

Ist es ein Wunder, dass unter solchen Verhältnissen der Plan, der Stadt ein neues Wappen zu geben, unmöglich war? Zwar war die Akte in Bearbeitung, zwar war das erwünschte und historisch dem mittelalterlichen Stadtsiegel nachgebildete neue Wappen bereits gezeichnet und durch die städtischen Instanzen gelaufen, aber der Krieg verbot die Fortsetzung der Arbeiten. Auch das wurde zu Rauch. Trotzdem soll hier das geplante Stadtwappen abgebildet werden:

Auch hinsichtlich der Verwahrung seiner Kunstwerke vor den zerstörenden Kräften des Krieges war Stargard auf seine eigene Initiative angewiesen. Mehrere Pakete mit historischen Akten wurden nach Damnitz gegeben, wo sie in einem Gemäuer sicher sein sollten. Die größeren Gegenstände aber wurden mit zwei Lastwagenfuhren nach Pansin und nach Vehlingsdorf ins Schloss gebracht. Darunter befanden sich der gotische Schrank aus St. Marien, der geschnitzte Hochaltar aus der Johanniskirche, die alten Kronleuchter aus der Marienkirche, ein paar Gemälde aus dem Rathaus, unersetzliche Teile der Sammlungen des Heimatmuseums. Dort ist alles verschollen.

Im Winter 1944 wurde eine sehr schmerzliche Anordnung der Regierung ausgeführt: die Glocken wurden abgegeben. In der Johanniskirche durfte allerdings die große Glocke von 1464 verbleiben, aber die Marienkirche musste ihre drei größten abgeben und die kleinen Kirchen alle. Nach einem bedrückenden Abschiedsgeläute wurden elf Glocken aus den Türmen genommen und auf Schlitten durch die verschneiten Straßen zum Güterbahnhof in der Gneisenaustraße gebracht und von dort nach Hamburg zur Glocken-Sammelstelle verladen. Es waren:

Zurückgeblieben sind in St. Marien die kleinste und in St. Johann die größte Glocke. Alle anderen Kirchen wurden stumm.

Im Sommer und Herbst 1944 zogen pausenlos unendliche Kolonnen von Flüchtlingsfahrzeugen durch die Stadt. Damals dachten nur erst wenige daran, dass sie vielleicht auch einmal auf diese Weise ihre Heimatstadt verlassen müssten. Als dann aber im Januar 1945 der Geschützdonner von Pyritz herüber zu hören war, geriet Stargard ebenfalls in den allgemeinen Strudel.

Die Russen waren von Süden und Osten her im Anmarsch auf Stargard. Bei Pyritz wurde wochenlang gekämpft und dabei diese Stadt in Grund und Boden geschossen. Von Arnswalde und Pyritz her wurden mehrere russische Keile nach Norden vorgetrieben. Die Wallonen unter Léon Degrelle kämpften auf den Rückzugslinien zwischen dem Plönesee und Stargard. Unsere Stadt glich einem Heerlager. Die verängstigten Einwohner versuchten die Stadt zu verlassen, doch wurde das verboten. Stargard sollte „bis zum letzten Mann" verteidigt und unbedingt gehalten werden. Erst Mitte Februar, als die ersten Granaten bereits in die Stadt fielen, durften die Bewohner auf eigene Faust die Stadt verlassen. Wer noch mitgenommen wurde, fuhr mit der Eisenbahn. Andere hatten sich mit Pferd und Wagen aufgemacht und brachten auf diese Weise manchmal sogar noch einige wenige Habe mit aus der verlassenen Wohnung. Viele, viele aber flüchteten zu Fuß in Richtung  Massow, Gollnow oder Stettin, bis zum Zusammenbrechen mit dem Allernotwendigsten beladen. Das andere, meiste, musste zurückbleiben. Viele starben am Straßenrand vor Erschöpfung im Schnee.

Die letzten, die in Stargard blieben, erlebten dann einen Bombenregen  russischer Flieger, der mehrere Tage lang ununterbrochen auf Stargard niederging. Nur ganz wenige hielten dem stand und harrten aus, alle anderen hatten Stargard verlassen, waren vor der russischen Front geflüchtet.

Der Befehl zur Verteidigung von Stargard kam bereits aus Gollnow  an die Truppen. Diese hatten die Stadt auch geräumt und standen auf den Saarower Höhen am Ende der Jobststraße und beim Steinernen Kreuz an der Buchholzer Chaussee. Hier standen die Stargarder Polizisten mit Stahlhelm und Karabiner. Léon Degrelle war auch hier der Truppenführer, der aufzuhalten und zu retten suchte, wo nichts mehr aufzuhalten und zu retten war. Weithin war das Flammenmeer der brennenden Stadt zu sehen. Genau wie vor dreihundert Jahren wurde ganz Stargard ein Raub des Feuers.

Am 4.März 1945 rückten russische Panzer von Osten her über Mexiko und den Werder in Stargard ein. Sie fanden keine Gegenwehr. Die letzten Stargarder hatten sich verkrochen, die Russen rückten in eine leere, brennende Stadt ein und richteten ihr Hauptquartier in der Jobstvorstadt ein, welche nicht abgebrannt war. Dann überließen die Fronttruppen nachrückenden Einheiten die Stadtruine und rückten weiter, auf die Oder zu. In Stargard selbst fiel kein Schuss. Die Polizisten und die wenigen Stargarder, die mit ihnen zogen, erreichten über Wollin Swinemünde und von da auf dem Wasserwege Schleswig-Holstein.

Viele Familien aber, die auf kümmerlichen Gefährten auf die Flucht gegangen waren, wurden unterwegs von der russischen Front eingeholt und gezwungen, mit allem Gepäck nach Stargard zurückzukehren. Dort angekommen, wurde ihnen aber von den inzwischen dort eingetroffenen Polen, den neuen Herren der Stadt, nicht gestattet, in ihre alten Wohnungen, soweit sie noch standen, wieder einzuziehen, sondern sie mussten die Trümmer aufräumen helfen und unter unmenschlichen Bedingungen darbend schuften. Am Ende wurden dann diese Allerletzten, nackt ausgeplündert, aus der Stadt gewiesen und mussten unter Bewachung im Fußmarsch nach Westen ziehen.

Sie überließen unter Zwang ihr Land den erneut von Osten herandrängenden Slawen. Noch allerdings war nicht zu erkennen, was diese vorhatten. Noch waren alle der festen Hoffnung, nach Beendigung der Kämpfe nach Stargard zurückkehren zu können.

 

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