Markt mit Rathaus
Joachim Stampa
"Stargard in Pommern
Schicksale einer deutschen Stadt"
3. Auflage,
Seite 75-77; 157
Ungefähr in der Mitte des 16. Jahrhunderts muss mit dem Stargarder Rathausgiebel etwas passiert sein. Vielleicht hat es gebrannt, vielleicht bröckelte der gotische Zierrat ab: Wir wissen es nicht, denn alle Dokumente, welche es gegeben hat, sind 1635 verbrannt. Aber die Arbeit muss unaufschiebbar gewesen sein, sonst hätten die sparsamen Ratsherren sicherlich den schönen Treppengiebel mit seinem reichen Schmuck aus Formsteinen stehen gelassen. Der alte Giebel wurde also abgetragen und ein neuer aufgesetzt.
Bei dieser Gelegenheit scheint das ganze Gebäude umgebaut worden zu sein. Aus der bisher offenen Markthalle wurde eine geschlossene, aus dem gotischen Treppengiebel ein überreicher Maßwerkgiebel aus abgeputztem Ziegelmauerwerk. Fenster für die beiden Obergeschosse wurden in den Maßwerk Vorhang eingearbeitet. Und dann bekam das neue Rathaus nicht nur einen Turm, sondern deren zwei, auf jedem Giebel einen. Der westliche Turm auf der Marktfront wurde sehr schlank, zierlich und erheblich höher als der auf dem Ostgiebel. Den Beweis für die beiden Türme auf dem Rathaus liefert die Lubinsche Karte von 1612. Leider ist die Darstellung dort so sehr klein, dass Einzelheiten nicht zu erkennen sind. So war ich beim Versuch einer Rekonstruktion des Westturmes auf Vermutungen und Vergleiche mit anderen Rathaustürmen dieser Stilepoche angewiesen. Danach hat sich über dem letzten originalen Maßwerkstreifen, dem flachen Bogenband über der modernen Rathausuhr noch ein Maßwerk Geschoss befunden, das das Muster des untersten Stockwerkes wiederholt und in dem das Mittelfeld, folgerichtig ornamental ausgespart, die ursprüngliche Uhr enthielt, an die die an dieser Stelle später erscheinende rote Kreisblende erinnert.
Über diesem Uhrengeschoss hat sich dann das flache Bogenband wiederholt diesmal aber durchbrochen einen Umgang bildend. Mit dem unteren Bogenband durchbrach der Turm die Dachhaut und wuchs von da an zunächst quadratisch weiter in die Höhe. So hat sich die Möglichkeit ergeben, dass die Rathausuhr nicht nur vom Markt aus, von Westen her, sondern auch von Norden und von Süden abgelesen werden konnte. Der eben erwähnte Umgang war die Plattform für einen nunmehr achteckigen Turm, der in mehreren Staffeln und mit Unterbrechungen durch ein zweimaliges kupfernes Zwischendach angelegt war und dann über dem letzten Laternchen in eine schlanke Spitze auslief. In einem Geschoss wird eine kleine Glocke gehangen haben.
Sämtliche Maßwerkgeschosse bis einschließlich des Umgangs waren von Renaissance Obelisken flankiert, die an den beiden anderen Maßwerkgiebeln am Markt noch bis 1945 erhalten geblieben waren. Diese beiden Prachtgiebel waren Geschwister zum Rathausgiebel. Allerdings erreichten sie nicht die Ausmaße und auch nicht den Formenreichtum des Rathauses. Es sind dies die Eckhäuser Pyritzer Straße/Poststraße am Markt und Radestraße/Markt. Das erstgenannte Haus enthielt bis zuletzt die Privilegierte Rats- und Löwen-Apotheke. In dem anderen Haus, welches im Eigentum der Stadt stand, befand sich zuletzt eine Nebenstelle der Städtischen Sparkasse. Aus der Lubinschen Karte geht hervor, dass diese beiden Giebelhäuser ebenfalls mit einem Turm geschmückt waren. Und zwar sind in beiden Häusern die Stiegentürme so weit über das Dach hinaus gebaut worden, dass sie ansehnliche und weithin sichtbare Bauelemente darstellten.
Auf dem Grundstück der Apotheke war dieser Turm noch bis übers Dach erhalten und war dann mit einem Ziegel Zeltdach abgedeckt. In dem anderen Haus waren Reste des Turmes nicht mehr so deutlich zu erkennen. Es geht die Sage, dass die genannten drei Giebelhäuser, die schönsten der ganzen Stadt, untereinander mit unterirdischen Gängen verbunden gewesen sind.
Fremde fragten manchmal, welchem Baustil diese Giebel zuzuordnen seien. Elemente der Gotik, der Renaissance und des Barock scheinen sich in allen drei Giebeln den Rang abzulaufen. Der Baumeister hat damals aber gar keinen "Baustil" bauen wollen, sondern nur "schöne Giebel", und das, meine ich, ist ihm gelungen. Dennoch lässt sich über die Zugehörigkeit einiges sagen. Die Frager gingen selbstverständlich von dem ihnen damals gegenwärtigen Zustand der Giebel aus und nicht vom ursprünglichen. Es muss bedacht werden, dass 1635 die ganze Stadt abgebrannt ist und dass die Wiederherstellung unter den größten Schwierigkeiten erfolgen musste. Vor allem der Rathausgiebel hat sein Aussehen mehrfach erheblich verändert.
Alle drei Giebel enthalten (enthielten) Merkmale der Renaissance, nämlich Rollwerk und Obelisken. Das Rollwerk am Rathausgiebel ist erst sehr spät beseitigt worden. An den beiden anderen Häusern blieb es voll erhalten. Das kreisförmig sich verzwickt überschneidende Ziegel Maßwerk ist aber unter dem Namen "Vielschneuß" typisch für Spätgotik. So stehen die drei Giebel zugleich am Abhang der Spätgotik und am Fuße der Renaissance, sind also in der Übergangszeit gebaut und sowohl konservativ wie avantgardistisch.
Anmerkung: Das Rollwerk ist eine Dekorationsform, die hauptsächlich in der deutschen Renaissance des 16. Jahrhundert und frühen 17. Jahrhunderts vorkommt. Verschlungene und aufgerollte, plastisch wirkende Bandformen sind ihre Merkmale.
Luftaufnahme vom Stargarder Marktplatz, etwa 1935
Im ersten Drittel der Unterkante ist links noch ein Teil des Giebelhauses Radestraße 19 zu erkennen und ganz rechts der Rats- und Löwen- Apotheke. Über dem linken Ende des Rathausdaches sieht die Giebelspitze vom Ältesten Haus hervor. Mitten auf dem Marktplatz steht noch das Kriegerdenkmal, die Germania. Die beiden Giebel der Häuser Markt 13 und 14 (neben der Wache) sind bereits restauriert.
Luftaufnahme vom Stargarder Marktplatz, etwa 2005
zurück zum Inhaltsverzeichnis