Kindheitstage an Ravensburg und Krampehl
Siegfried Genz
Stargarder Jahresblatt 2006
Ich habe von 1939 bis 1945 in Stargard gewohnt, geboren bin ich in Rosenberg in Westpreußen. Trotz der kurzen Zeit ist mir Stargard zur Heimat geworden. Sicher war es auch eine ereignisreiche Zeit. 1939 meine Einschulung in die Rosenbergschule, dann im Jahre 1942 der Übergang zur Mittelschule und auch der Eintritt in das Deutsche Jungvolk, Fähnlein 3/9. Durch die ganze Zeit zogen sich die Ereignisse des Krieges, an denen wir als Jungen ja interessiert waren. Vor allen Dingen natürlich an den Erfolgen, wenn ein Land nach dem anderen von Deutschland besetzt wurde. Welches Leid und welche Verluste dieser Krieg mit sich brachte, sollten wir später ja am eigenen Leibe erfahren. Was für eine schöne Stadt Stargard war, habe ich eigentlich erst durch Hefte des Stargarder Jahresblattes erfahren. Als zehn- und zwölfjähriger Junge hatte ich dafür noch keinen Blick. Es fehlten mir aber auch sicher Möglichkeiten des Vergleiches. Sicher fand ich den Marktplatz mit dem herrlichen Rathaus und der Alten Wache daneben und den Giebelhäusern, die sich dort anschlossen, schon damals sehr schön. Ebenfalls die imposante Marienkirche, an der ich oft vorbei gegangen bin, aber das alle Häuser rund um den Marktplatz Kunstwerke waren, das habe ich erst von den Bildern in den Heften erfahren.
Wir wohnten in der Zartziger Str. 50. Es war das letzte Haus an der rechten Seite von dem großen Häuserblock. Ich gehörte also zu den Kindern und Jugendlichen, die sehr oft den Krampehl als Badestelle benutzt haben. Zu dem Benckenhoffkanal, wie der Herr Professor Schwichtenberg ihn bezeichnet, kann ich nur sagen, dass ich diesen Namen zum erstenmal bei ihm gelesen habe. Bei uns Kindern und Jugendlichen hieß der ganze Graben Ravensburg.
Die Ravensburg war aber zum Baden nicht geeignet. Sie war sehr verkrautet und am Boden auch sehr verschlammt. Es gab aber schon ein unfreiwilliges Bad in dem Bach. Einige, die beim Radfahren lernen sehr mutig waren und gleich auf dem Bürgersteig umdrehen wollten, fuhren direkt ins Wasser. Da gab es natürlich für die anderen was zu lachen. Schadenfreude ist eben die schönste Freude. Man konnte aber kleine Stichlinge darin fangen. Dazu brauchte man nur einen Regenwurm, wir sagten Piratzen, ins Wasser halten und daran bissen sich die kleinen Fische fest und dann konnte man sie herausziehen. Die größeren Jungen holten auch schon mal einen Hecht aus dem Graben. Sie hatten dazu eine feine Drahtschlinge und die schoben sie dem Hecht von vorne über den Kopf. Das gelang aber nur in der Laichzeit, dann standen die Hechte ganz still. Es gehörte aber schon eine ruhige Hand dazu.
Für uns war es immer ein weiter Weg bis zum Krampehl am Wasserfall. Wir gingen die Zartziger Str. weiter, dann rechts über die weiße Brücke, ein Stückchen weiter ging es dann rechts in die Elsnerstraße. Links führte hier ein Weg zu dem Ausflugslokal Kotelmanns Garten. Im Verlauf des Krieges waren dort polnische Fremdarbeiter untergebracht. Wir sahen manchmal welche, wenn sie durch die Zartziger Str. gingen. Sie trugen auf ihrer Kleidung ein deutlich sichtbares P.
Unser Weg führte uns aber weiter, bis zur Eschenstraße. Hier mussten wir links abbiegen. In dieser Straße standen meiner Erinnerung nach nur noch wenige Einfamilienhäuser. Es kam dann die große Eisenbahnbrücke, über die die Züge in Richtung Kreuz, Belgard und Köslin fuhren. Ob diese Züge auch bis Königsberg fuhren, kann ich heute nicht mehr sagen. Jetzt hatten wir einen Weg vor uns, der quer durch die Felder verlief. Wie weit es nun noch bis zum Wasserfall war, kann ich heute schlecht einschätzen. Als Kind sieht man die Entfernungen und Größen etwas anders. Auf jeden Fall stand an diesem Weg kein Baum und kein Stauch, so dass wir immer in der prallen Sonne gehen mussten. So war die Freude dann sehr groß, wenn wir die Badestelle erreicht hatten.
Der Krampehl war ein kleiner Fluss, vielleicht fünf bis sechs Meter breit und hatte sehr klares Wasser. Es war etwa achtzig Zentimeter tief, jedenfalls reichte es mir bis an die Brust. Das war gut zum Schwimmen lernen, da konnte man sich immer noch mit einem Fuß auf dem Boden abstoßen. Dann ging mit einem mal das Schwimmen unter Wasser, aber der Kopf wollte einfach nicht über Wasser bleiben. Es braucht eben alles seine Zeit und dann mit einem Mal blieb der Kopf oben. Das war ja so leicht, warum ging das nicht früher.
Nun musste ich meiner Clique aber beweisen, dass ich wirklich schwimmen konnte. Dazu musste ich durch die Pferdekuhle schwimmen. Am Wasserfall fiel das Wasser etwa 70 bis 80 cm ab in einen runden Kessel aus Beton. In diesem Kessel war es sehr tief und wir sagten Pferdekuhle dazu. Ich weiß nicht, ob da jemals Pferde drin gebadet wurden? Ich habe es jedenfalls nicht gesehen. Es beschlich mich doch ein ängstliches Gefühl, wenn ich daran dachte, es gibt keine Möglichkeit mehr, mal mit dem Fuß auf den Boden zu kommen. Wie tief die Kuhle wirklich war, hat von meinen Freunden keiner ausprobiert. Ich hatte aber meine Mutprobe bestanden. Wobei auch noch ein Kopfsprung dazu gehörte, natürlich in die Pferdekuhle. Mein Freischwimmerzeugnis habe ich dann später im Hallenbad gemacht. Da konnte man erst mal sehen, wie lange eine Viertelstunde sein kann. Der Sprung vom Dreimeterbrett, der auch dazu gehörte, kostete auch viel Überwindung.
eine andere Badestelle am Krampehl, weiter flussaufwärts an der Hammermühle
Doch zurück zum Krampehl. Wenn es dann auf den Heimweg ging, waren wir natürlich alle müde und ausgehungert. Denn Baden macht hungrig. Zum Glück gab es aber unterwegs immer ein bisschen Marschverpflegung, wie wir es nannten. Mohrrüben gab es immer mal auf einem Feld, wenn es auch meistens bloß die gelben Pferderüben waren. Die schmeckten uns auch. Die wurden dann solange durch das Gras gezogen, bis sie einigermaßen sauber waren. Ein bisschen Sand schadet nichts, sagten wir. Sand reinigt den Magen. Es gab aber auch manchmal Maisfelder und wenn die Kolben noch nicht richtig ausgereift waren, schmeckten sie sehr süß und waren weich und saftig. Wir mussten aber aufpassen, dass wir nicht von dem Pächter, oder Besitzer erwischt wurden. Da wir gut laufen konnten, sind wir ihm aber immer entwischt.
Aber nicht nur im Sommer hing unsere Freizeitbeschäftigung mit dem Wasser zusammen, sondern auch im Winter. Das Wasser war dann allerdings gefroren. Jedes Jahr im Herbst wurden die großen Wiesen auf der linken Straßenseite überschwemmt. Wenn es dann Frost gab hatten wir riesige Eisflächen. Sie reichten von der Zartziger Str. bis zum Kuhbringdamm und teilweise noch darüber hinaus. In der anderen Ausdehnung konnte man bis zum Bahndamm laufen. Wie das so bei Jungen ist, konnten wir natürlich nicht warten bis das Eis richtig trägt. Wir nannten es Gummieis, wenn es schwankte. Dann ging es mit Schlitten und Eispiken rauf. Es konnte ja nicht viel passieren, das Wasser reichte ja höchstens bis zu den Knien, sollte man mal einbrechen.
Da gab es dann auch Wettbewerbe, wer hat die besten Piken. Ein Freund von mir hatte seiner Mutter den Besenstiel abgeschnitten, so was konnten wir uns aber nicht erlauben. So hatten wir damit immer Probleme. Unser Vater war Soldat und sonst hatten wir auch keine Anleitung. Da war dann der Nagel, den wir in das Holz reingeklopft hatten, bald mal verbogen, oder er hatte sich ganz ins Holz reingedrückt. Leichter war es da schon eine Eishockeykelle zu schnitzen. Es standen genügend Weidenbüsche auf den Wiesen, da fand man schon was Passendes.
Wenn dann am Sonntag schönes Frostwetter war kamen die Menschen in Scharen aus der Stadt. Die großen Eisflächen waren dann dicht belagert. Da gab es dann mehrere Gruppen, die sich ein Eishockeyfeld abgesteckt hatten, aber auch Mädchen und Jungen, die ihre Pirouetten drehten und ihre Kunstsprünge übten. Ältere Leute kamen auch, die ruhig ihre Runden auf dem Eis drehten. Die Eiskunstläufer hatten natürlich auch andere Schlittschuhe als wir. Die wechselten am Eisrand die Schuhe und da waren die Schlittschuhe gleich dran. Da kamen wir mit unseren Hackenreißern nicht mit. Zum Glück hatten wir einen freundlichen Schuster in der Zartziger Str., der den abgerissenen Hacken dann schnell wieder befestigte.
Aber die kleine Ravensburg, die sonst so ruhig und still dahin floss, konnte auch sehr viel Schaden anrichten. An einem Morgen im Frühjahr 1942 wurden wir von unserer Mutter geweckt und sie sagte uns, dass wir heute nicht zur Schule gehen brauchen. „Warum nicht?" war unsere Frage. „Seht euch das mal selber an", antwortete sie darauf. „Geht mal ans Fenster". Wir trauten unseren Augen nicht. Von unserem kleinen Bach, der vor unserem Haus floss, war nichts mehr zu sehen. Statt dessen war vor unserem Haus ein breiter Fluss, der den Raum vom Haus bis an die Straße ausfüllte. Das Wasser war so hoch, dass es schon schwach über die Straße spülte und sich damit mit dem Wasser auf den Wiesen zu einem riesigen See verband. Sowas hatten wir noch nicht gesehen und das hätten wir nicht für möglich gehalten.
Unsere Mutter und unsere große Schwester hatten es rechtzeitig bemerkt und in den frühen Morgenstunden noch einige Sachen aus dem Keller ins Trockene ge-bracht. Kohlen, Kartoffeln und Eingewecktes standen im Treppenflur. Der Keller stand am Morgen etwa anderthalb Meter unter Wasser. Da war jetzt nichts mehr zu holen. Darüber, dass wir nicht zur Schule gehen konnten, waren wir nicht sehr böse, aber dass wir auch nicht aus dem Haus konnten, das ärgerte uns schon mehr. Im Laufe des Tages kamen Männer von der Stadt und bauten Notbrücken. Schmale Bretter wurden an den Häusern entlang gelegt und mit einem Geländer versehen. An jedem fünften oder sechsten Haus führte dann ein Steg zur Straße. Das Wasser war inzwischen soweit gefallen, dass man auf der Straße gehen konnte.
Für uns Jungen war das natürlich der ideale Spielplatz. Wir spielten Greifen auf den Stegen. Es ging dann am Haus entlang und dann zur Straße und wieder auf den nächsten Steg an die Häuser ran. Bei diesem Toben blieb ich an einem Pfosten des Geländers hängen und stürzte unter dem Geländer hindurch ins kalte Wasser. Das Wasser schlug über dem Kopf zusammen und ich wusste gar nicht mehr was passiert war. Ich kam dann aber wieder schnell hoch und kletterte schnell auf die Notbrücke und rannte so schnell wie möglich nach Hause. Zu Hause bekamen sie alle einen Schreck. Ich musste mich ausziehen, wurde abgewaschen und abgetrocknet und dann schnell ins Bett gesteckt. „Damit du dich nicht erkältest", sagte meine Mutter. Ich glaube, es war aber auch ein bisschen Strafe dabei. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange das Hochwasser blieb, aber es ging dann auch wieder zurück und die Ravensburg floss wieder still und ruhig dahin, als hätte sie gar nichts gemacht.
So gibt es viele Erinnerungen an unsere Stadt, die durch die Stargarder Jahresblätter wieder
ins Gedächtnis gerückt werden.
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