Die Große Glocke der Marienkirche

Der nachfolgende Text wurde entnommen aus:
Joachim Stampa
Zeitschrift Pommern 1/1975, S. 23-29
Nachdruck in der Pommerschen Zeitung vom 23.6. und 30.6.2007



   








 

  


Die Marienkirche zu Stargard ist nicht nur die größte Kirche der Stadt, sondern von ganz Pommern. Es liegt auf der Hand, dass dieses reich ausgestattete Kirchengebäude mit einem entsprechenden Geläute versehen wurde. Meist bestand dieses aus 4 Glocken, aber sonderbarerweise haben diese nicht immer im Hauptturm, dem Nordturm, gehangen, sondern lange Zeit im Südturm, welcher in unseren Tagen innen leer, nicht ausgebaut war.

Der fest datierbare erste Bauabschnitt der riesigen Kirche steht mit dem Jahre 1292 fest. Wann die erste Marktkirche, die erste unscheinbare Vorgängerin der Marienkirche begonnen oder geweiht worden ist, steht nicht fest. Die ersten 4 Glockengeschwister wurden in den Südturm gehängt. Die Marienglocke, allgemein die Schlangenglocke genannt, wurde im Jahr 1499 gegossen und trug folgende lateinische Inschrift, hier ins Deutsche übersetzt:

Ehre sei Gott in der Höhe!
Freue dich, Gottesmutter, unbefleckte Jungfrau, Amen.
O König des Ruhmes, komm mit deinem Frieden.
Im Jahre des Herrn 1499 ist dieses Werk durch den Meister Martin Meyer vollendet worden
um das Fest von Mariae Empfängnis.

Der volkstümliche Name "Schlangenglocke" erklärt sich aus einer Sage. Bei der öffentlichen Sammlung von Metall zum Guss dieser Glocke soll eine "weise Frau" eine lebendige Schlange in den glühenden Erzfluss geworfen haben unter der Beschwörung: "So weit diese Glocke klingt, soll keine Schlange sein!" Eigenartigerweise gab es in und um Stargard trotz vieler Niederungen keine Schlangen. Die weiteren Glocken der Marienkirche heißen Apostelglocke, Messglocke und Weckerglocke.

Im Dreißigjährigem Krieg fing die Marienkirche beim großen Stadtbrand 1635 im Gegensatz zu der unversehrt gebliebenen Johanniskirche auch Feuer. Es zerstörte Dächer und Innenausbau der Türme, so dass die Glocken abstürzten und dabei zerbarsten. Aber schon 1636, also im nachfolgendem Jahr, wurde aus den Scherben der Schlangenglocke eine neue Große Glocke gegossen, und zwar auf dem Großen Rondell beim Johannistor. Drei weitere Glocken entstanden erst 1665.

Mit dem damit vorhandenem Geläut hatten die Stargarder jedoch immer wieder Pech. Zuerst war bei der Großen Glocke, dann aber auch bei der Apostelglocke und die Weckerglocke der Mantel zweimal bis zur Mitte gesprungen. Zusammen mit den Scherben aus der Johanniskirche sollten aus den drei gespungenen Glocken vier neue für St. Marien gegossen werden. Diese Arbeit führte der Glockengießer Gruhl in Klein Welcke bei Bautzen aus.

Die Große Glocke, auch Marienglocke genannt, hieß im Volksmund noch immer die Schlangenglocke. Sie wiegt 3,5 Tonnen, ist 180 cm weit und zwei Meter hoch und klingt auf den Ton as. Auf Kosten des Fabrikbesitzers Wichert, der im Kirchenvorstand saß, bekam sie einen Fries um den ganzen Mantel mit Darstellungen der zwölf Apostel in gotischen Bögen und dazu zwei Sprüche:

Rufe getrost, schone nicht, erhebe deine Stimme.
Der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände,
ja das Werk unserer Hände wolle er fördern.

In den Nordturm der Kirche am Markt kam ein neuer Glockenstuhl, in dem unten die beiden großen Glocken hingen, und zwar die Große Glocke südlich, die Inschriftenglocke (neuer Name) nördlich und darüber über der Großen Glocke die Weckerglocke und über der Inschriftenglocke die Abendmahlsglocke (neuer Name). Beim Läuten schwangen sie von Osten nach Westen. Am 22. August 1862 wurden alle vier neuen Glocken feierlich vom Bahnhof eingeholt. Sie kosteten alle zusammen, da das Glockengut geliefert worden war, nur 2237 Taler, 12 Silbergroschen, 11 Pfennig.

Das prachtvolle, klare und weithin vernehmbare Geläut der Marienkirche war der Stolz der ganzen Stadt. Im Ersten Weltkrieg blieben diese vier Glocken von der Abgabe verschont. Aber Ende 1943 kam dann doch die Anordnung, dass alle Glocken abzuliefern seien. In den beiden großen Kirchen wurde je eine Glocke belassen, in St. Johann wegen des hohen historischen Wertes die größte, in St. Marien dagegen die kleinste.

Man kann zu dieser Ablieferung verschiedene Standpunkte einnehmen. Sicher ist jedoch, dass alle vier Marienglocken vernichtet worden wären, wenn sie hätten im Turm bleiben können. Nur die Tatsache, dass sie vor dem großen Brand Stargards vom Frühjahr 1945 aus der Stadt gebracht worden waren, hat uns wenigstens die beiden größten Glocken des Geläutes erhalten.

Im Februar 1944 kam der Tag der Ablieferung. Wegen des tiefen Schnees waren zwei Spezialschlitten an der Marienkirche vorgefahren. Zum Abschied wurde noch ein letztesmal das elektrische Geläute angestellt. Nacheinander läuteten alle Glocken allein, erst die kleinste, dann die mittlere, dann die Inschriftenglocke und zuletzt die Große Glocke. Dann trat eine kurze Pause ein, und danach erklang das volle Geläute für wohl zehn Minuten, und den Abschluss bildete nochmals die Große Glocke allein, wieder für etwa zehn Minuten. Hierauf begann man mit dem Abbau der Mechanik, und die Glocken wurden abgeseilt.

Die drei Glocken-Geschwister wurden zur Glockensammelstelle nach Hamburg verladen. In Hamburg blieben sie aber stehen und kamen nicht in die Rüstungs-Schmelze. Hier war dann später der Ausgangspunkt für die Nachkriegsverwendung durch die Kirchenbehörden.

Die Stadt Stargard sank Ende Februar, Anfang März 1945 im feindlichen Bombenregen in Schutt und Asche. Genau wie im Dreißigjährigem Krieg blieb die Johanniskirche wieder vom Feuer verschont und somit die wertvolle Große Glocke erhalten. Der Marienturm mit dem Glockenstuhl brannte dagegen aus, und die letzte Glocke, die hatte zu Hause bleiben dürfen, stürzte ab mit dem brennenden Gebälk bis in das Kirchenschiff und zerbarst auf dem Estrich.

Die beiden großen Marienglocken aber wurden wieder lebendig. Zwar wurden sie unverständlicherweise auseinandergerissen, aber sie tun wieder in evangelischen Kirchen ihren Dienst. Die Inschriftenglocke hängt im Turm der Lucas-Kirche in München und die Große Glocke im Daniel, dem Glockenturm der St. Georgs-Kirche in Nördlingen. Dort kann sie jedermann besuchen, sehen und hören.

 

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