Dieser Bericht informiert Sie über das rege Kulturleben in Stargard vor 1945
Erinnerungen an Musiker
Joachim Stampa
Stargard in Pommern
Flausen und Schnurren
In meiner Vaterstadt wurde sehr viel Musik getrieben, privat wie öffentlich. Es gab ein Heer von Musiklehrern aller Art, für Gesang ebenso wie für allerlei Instrumente. Wir hatten allein mehrere Musikschulen In der Stadt, die von vielseitigen Musik-Fachleuten geleitet wurden und wo viele, viele Stargarder Jungen und Mädchen das Musizieren gelernt haben. Wollte jemand ein ausgefallenes Instrument erlernen, etwa Oboe oder Fagott, so standen dafür die ehemaligen Militärmusiker zur Verfügung, die einstmals im Musikkorps des Stargarder Regiments aktiv als Hoboisten gedient hatten und das Musizieren nach Entlassung aus dem Wehrdienst nicht aufgaben. Sie hatten sich zur "Zivilkapelle" zusammengetan, die neben dem Regiments-Musikkorps für alle Arten leichter und schwerer Musik zur Verfügung standen. Diese Herren spielten jeweils mehrere Instrumente, denn das war Pflicht für Militärmusiker, und sie mussten auch neben den militärischen Blasinstrumenten auch zivile Streichinstrumente beherrschen. So war kein Mangel an Instrumentalisten, wenn irgendwo irgendwie irgendwer irgendwas aufführen wollte, etwa ein Oratorium in einer Kirche, ein Sinfoniekonzert im Schützenhaus, eine Honoratioren-Beerdigung mit Musik. Ebenso ließen sich in allerkürzester Zeit auch Kammermusiken in jeder Besetzung ermöglichen. Regelmäßige Sinfoniekonzerte veranstaltete der kaiserliche Militär-Musikdirektor Moritz Kohlmann schon lange vor dem Ersten Weltkrieg. Ich selber habe Schuberts Unvollendete zum erstenmal im Schützenhaus unter Liepe erlebt, der aktive und ausgediente Militärmusiker zu einem beachtlichen Klangkörper zusammengefasst hatte. In diesem Zusammenhang müssen auch die Militär-Großkonzerte im Schützengarten genannt werden, bei denen manchmal sämtliche Musikkorps des II.A.K. mitwirkten, Hunderte von Musikern. Das war nicht allein akustisch etwas Besonderes, sondern auch optisch. Jedesmal wurden diese Konzerte mit dem Großen Zapfenstreich mit Spielleuten und Fackelbeleuchtung abgeschlossen.
Den Großen Zapfenstreich kannte wohl jeder Stargarder auswendig. Es ergab sich mehrmals im Jahr für den Standort die Gelegenheit, ihn mit allem militärischen Drum und Dran vorzuführen. Eigentlich geschah das immer auf dem Marktplatz, wo die Kulisse der historischen Gebäude den Hintergrund für das Schauspiel hergab. Die Kompanie kam dann präzise zur angesetzten Zeit mit klingendem Spiel von der Grenadierkaserne durch die Bahnhofstraße, das Johannistor und die Holzmarktstraße zum Markt. Dort gab es das dazugehörige Platzkonzert und danach mit hallenden Kommandos, krachenden Gewehrgriffen, mit Fanfaren und. Kesselpauken bei Fackelschein den Großen Zapfenstreich. Und dann marschierte die Truppe durch die Pyritzer Straße, die Hindenburgstraße und die Bahnhofstraße zur Kaserne zurück, begleitet von tausend oder mehr Bürgern jeden Alters.
Rathaus und Kriegerdenkmal
Zu den allbekannten und allseits beliebten Einsätzen der Regimentsmusik gehörten aber vor allem die Platzkonzerte, die im Sommer etwa einmal im Monat stattfanden und die immer von vielen tausend Menschen aller Altersstufen und jeder politischen Einstellung gern besucht wurden. Zuerst war für diese Konzerte der Marktplatz zuständig, wo die Musik in der Nähe des Germania-Denkmals mitten auf dem Markt im Kreise aufgestellt war und wo die Jugend in zwei entgegengesetzten Zirkeln umher flanierte zu zweit , zu dritt oder zu viert in jeder Reihe. Wir Jungen hatten dafür noch kein Interesse, und wir standen dicht hinter den Musikern und versuchten die Noten mitzulesen. Hier habe ich meine ersten Kenntnisse in der Instrumentalkunde und der Besetzung von Bläser-Musiken gesammelt. Ich weiß noch, wie mir einmal ein Soldat mit Schwalbennestern auf den Schultern den Unterschied zwischen einer Trompete und einem Flügelhorn klar machte, wo sich bekanntlich beide Instrumente sehr ähnlich sehen. Ein wichtiger weiterer Einsatz der Militärmusik wurde von mir bereits in dem Aufsatz über unser Schützenfest geschildert. Dies Volksfest war überhaupt nicht zu denken ohne die Militärmusik.
Wenn im Herbst die Felder abgeerntet waren, pflegten die Züge und Kompanien unseres Regiments mehrmals in der Woche Felddienstübungen vor den Toren der Stadt zu machen. Dazu rückte die Einheit schon in der Nacht oder bei Tagesanbruch zu Fuß aus, durch die Stadt und die Chaussee hinaus ins Wallfeld oder ins Pyritzer Feld oder nach Zartzig zu. Dann zogen die Musiker um neun Uhr etwa mit ihren schweren Instrumenten unterm Arm durch die Straßen auf den Bürgersteigen ohne Marschordnung bis vor die Stadt und erwarteten dort das Eintreffen der müden, abgekämpften Kameraden, und dann setzte sich die Musik an die Spitze des Zuges und "spielte sie zur Kaserne zurück." Nun vergaßen die Männer des Zuges oder der Kompanie ihre Müdigkeit und die Anstrengungen der vergangenen Stunden und marschierten in straffer Ordnung durch die Straßen, wieder begleitet von vielen Einwohnern bis zur Kaserne, wo meist ein zackiger Vorbeimarsch der Schluss war. Das geschah wohl fünfzigmal im Jahr, und jedesmal waren die Bürger bei ihren Soldaten beim Rückmarsch zur Unterkunft.
Unser Musikkorps war immer etwa 45 Mann stark. Die Musikmeister-Namen kannte jeder: Liepe, Ahlers, Grothe, Schlegel. Aber nicht alle waren auch bei ihren Musikern beliebt. Von einem weiß ich, dass er mit seinen Männern gelegentlich auch auf dem Exerzierplatz war und sie robben und Gefechtsübungen machen ließ.
Ich komme noch einmal zurück auf die Platzmusiken. Früher war das heute „Alte Wache" genannte Gebäude am Markt die Hauptwache der Garnison. Hier stand damals ein Schilderhaus mit einem „Posten vor Gewehr", und unter den Arkaden des kleinen Baus waren in Ständern die Gewehre der zur Wache eingeteilten Soldaten abgestellt. An einem Flügel ein besonderer Ständer für Horn und Trommel. Im Erdgeschoss lag die Wache, und im Obergeschoss waren zwei Zimmer, das eine davon für den Offizier vom Dienst. Erst 1880 wurde die Wache hier aufgehoben, denn da bezog das Militär die neue Grenadierkaserne am Bahnhof, und seitdem steht dort der „Posten vor Gewehr" an seinem Schilderhaus. Die Ständer für Gewehre und Signalinstrumente blieben aber noch lange unter den Arkaden der Alten Wache stehen.
Es mag sein, dass aus dieser Zeit und dieser Tradition heraus der Marktplatz für besondere militärische Ereignisse prädestiniert war, dass also der Große Zapfenstreich vor der Alten Wache mit Front zu ihr hin geblasen wurde, und vielleicht kommt es auch hierher, dass meist die Platzmusik auf dem Markt stattfand. Erst sehr spät in meiner Schülerzeit kam es gelegentlich vor, dass auch an anderen Plätzen der Stadt, etwa am Roten Meer, am Eisturm oder im Goethepark Platzmusik war. Am Eisturm stand die Musik immer auf der Verkehrsinsel hinter dem Turm , und die Jungen und Mädchen wussten nicht, wo sie nun flanieren sollten. Aber hier war die unmittelbare Nähe des Offizierskasinos mit eine treibende Kraft, dass auch hier gelegentlich ein Standkonzert stattfand. Hier musste auch der damals allerdings noch nicht so dichte Straßenverkehr durch die Polizei sicher durch die Menschenmengen geleitet werden. Es war am Eisturm für uns immer besonders schön, weil es ja geradezu vor der Haustür stattfand, aber ganz glücklich war dieser Platz nicht ausgesucht. Da war es beim Roten Meer schon wesentlich besser. Hier fand kein Straßenverkehr statt. So war die Polizei überflüssig. Das Musikkorps stand auf einer eigens dafür hergerichteten Erhöhung zwischen dem Turm „Rotes Meer" und dem Stadtwall. Und oben auf diesem war viel Platz für viele flirtende junge Paare. Ich glaube nicht, dass ich die Zahl zu hoch gegriffen habe, wenn ich sage, dass bei Platzmusiken dieser Art jedesmal 2000 Menschen oder mehr zugegen waren. Und noch eines will ich sagen, es beleuchtet das ganze Verhältnis der Bevölkerung zu „ihren" Soldaten: Bei einer Platzmusik wurden die Darbietungen nicht mit Applaus bedacht. Dass die Musik „ankam", wussten die Musiker sowieso. Sie sahen es ja auch an der Beteiligung der Bürgerschaft. Sie warteten auch gar nicht auf Beifall, auch der Herr Musikmeister wartete nicht darauf. Er wusste ohnehin, dass er zu den beliebtesten Leuten in der ganzen Stadt zählte.
Gartenrestaurant Blüchergarten
Die Soldaten des Musikkorps vermieteten sich einzeln oder auch in der Gesamtheit des Korps für zivile Veranstaltungen: einzeln oder in kleineren Gruppen als Tanzmusik bei den Bällen verschiedener Art. Das ganze Musikkorps trat aber auch z.B. bei den öffentlichen Gartenkonzerten auf, die Hermann Lauber in. seinem „Blüchergarten" veranstaltete. Dies Gartenlokal lag an der Südostecke des Blücherplatzes und grenzte an die Ihna. Die Gäste konnten in dem Garten unter alten Bäumen sitzen oder auch in mehreren überdachten und stark verglasten Veranden. Am beliebtesten waren immer die Plätze am Zaun zur Ihna hin. Auf der entgegengesetzten Gartenseite stand der große Musikpavillon, eine Muschel, in der wohl zwei Musikkorps Platz gefunden hätten. Da der Garten auf den beiden anderen Seiten von massiven Gebäuden flankiert war, - auf der Nordseite das eigentliche Restaurant und. auf der Südseite die Brauerei Lykow - war die Musik überall im Garten gut zu hören. Wenn Hermann Lauber ein Militärkonzert in den Zeitungen angekündigt hatte, nahm er auch Eintritt. Sonst. war der Zutritt kostenlos. Aber die Musik war nicht billig, da musste jeder Besucher schon etwas beisteuern durch die Eintrittskarte, und von dem Verzehr der Gäste allein war das auch nicht zu bestreiten, und obendrein pflegte so ein Militär-Gartenkonzert mit einem großem Feuerwerk zu enden, welches der Stargarder Pyrotechniker, Drogist Julius Wasmund aus der Pyritzerstr. abbrannte. Die Raketen, Sonnen, Wasserfälle und was weiß ich noch, alle diese Feuerwerkskörper waren am jenseitigen Ufer der Ihna aufgebaut vor der Waschanstalt von Herrmann Bumcke. Dort war die Uferböschung ziemlich hoch, und auf diesem schmalen, langen Abhang vollzog sich dann das Glühen und Funkeln, das Knattern und Pfeifen, hin und wieder unterstrichen von einem tüchtigen Kanonenschlag.
Gartenrestaurant Blüchergarten von der Ihna aus
Bei solchen Gelegenheiten musste die Polizei mit mehreren. Beamten dort sein, um das Gefahrengebiet um die Feuerwerksarena freizuhalten. Bei solchen Gelegenheiten nämlich war außerhalb des „Blüchergartens" mehr Publikum als in dem Lokal. Das Stück Weidensteig-Promenade zwischen der Jungfernbrücke und der Ihnabrücke wimmelte dann von Hunderten von Zaungästen, die sich weder Gartenkonzert noch Verzehr bei Hermann Lauber leisten konnten oder leisten mochten. Dann war dies Stück des Weidensteigs schwarz von Menschen, und es herrschte ein Gedränge wie zu Pfingsten auf dem Schützenplatz. Solch Garten-Militärkonzert mit anschließendem Feuerwerk fand etwa drei bis vier Mal im Sommer statt. Die Frequenz richtete sich einmal nach dem Wetter und zum anderen nach der allgemeinen Stimmung. Zuschießen konnte und wollte Hermann Lauber auch nicht, - und wenn er einmal knapp mit seinen Unkosten klargekommen war, dauerte es ein wenig länger, bis er das Musikkorps wieder bestellte.
Wenn wir zu diesen Konzerten gehen wollten, lachte Vater uns aus, denn wir brauchten tatsächlich nur die Fenster aufzumachen und .konnten alles mit anhören. Auch auf dem Blücherplatz, der wahrlich nicht allzu klein war, wimmelte es dann auch von Zaungästen wie auf einem Ameisenhaufen. Überfall und Gewalttat brauchte damals niemand zu fürchten, auch wenn der Blücherplatz mehr als spärlich beleuchtet war. Alles vollzog sich in einem ordentlichen, friedfertigen Rahmen - immer!
Eine Art des musikalischen Einsatzes der Garnison will ich noch nennen: Das waren die Militärgottesdienste. Der Oberpfarrer an St. Marien war auch der örtliche Wehrmachts-Geistliche, zunächst Superintendent Brück, später Superintendent Rathke. Militärgottesdienste fanden etwa einmal im Vierteljahr statt, manchmal öfter, manchmal seltener. Dann kamen die Kirchgänger des Regiments in geschlossener Marschordnung zur Marienkirche und füllten das Mittelschiff. Inzwischen aber hatte das Musikkorps den Orgelchor über die schmale Wendeltreppe im Südturm erklommen und der Musikmeister mit dem Organisten Rücksprache gehalten. Das waren während meines eigenen Organistenjahres 1934/35 die allerschönsten Gottesdienste. Die Regimentsmusik spielte nach eigenen Noten, deren Sätze selten oder nie mit der Harmonik meines Choralbuches übereinstimmte. So war es üblich, dass der Organist nur das Präludium in der Tonart der Militär-Noten spielte - ich improvisierte es meistens - ‚ und dass danach die Orgel schwieg und das Blasorchester die Choräle intonierte. Nach Schluss des Militärgottesdienstes setzte sich das Musikkorps dann an die Spitze der Marschkolonne und spielte die Soldaten zur Kaserne zurück. Die Militärgottesdienste waren in der Bevölkerung weithin unbekannt, denn sie waren eben nur für das Militär da und nicht für andere Gemeindemitglieder. Aber es war schön, wenn oben auf dem Orgelchor die Mächtigkeit der Blasmusik erklang, während unten im Kirchenschiff tausend oder mehr Soldatenkehlen dazu die Choräle sangen. Doch nun genug von der Regimentsmusik!
Wenn die Soldaten des Musikkorps ihre Dienstzeit „abgerissen" hatten, wurden sie in das zivile Leben entlassen und nahmen dann entsprechend ihrer Ausbildung eine bürgerliche Tätigkeit auf. Manche traten als Beamtenanwärter („Versorgungsanwärter") in eine Behörde ein, andere etablierten sich als Privatmusiklehrer, manche blieben auch im Zivilen Musiker und verdienten sich mit ihrem erlernten Metier, der Musik, den Lebensunterhalt.
Die ausgeschiedenen Zivilmusiker schlossen sich zu einem Verein zusammen und bildeten die Zivilkapelle. Das war ein Klangkörper, der an Qualität dem Regiments-Musikkorps nicht nachstand. Das Einzige, das beide Orchester unterschied, war allerdings dann doch sehr wesentlich: Sie hatten nicht mehr die tägliche Probe, und sie hatten keinen ständigen Dirigenten. Wenn man aber einmal ein Streichquartett brauchte oder auch nur einen einzelnen Instrumentalisten, etwa einen Bratscher, zum Vervollständigen einer Liebhabergruppe suchte, so konnte man ihn sofort bei den Zivilmusikern finden und engagieren. Natürlich musste der Mann dann auch bezahlt werden. Aber das Forellenquintett mit einem versierten Bassisten aufzuführen, war ohne die Zivilmusiker gar nicht möglich. Welcher Bürger unserer Stadt konnte denn einen Kontrabass überhaupt spielen? ! Keiner! Und so ging es mit anderen Instrumentalisten ebenfalls. Immer wieder griff man auf die Zivilmusiker zurück.
Regelmäßig trat die Zivilkapelle geschlossen auf beim Schützenfest der Bürgerschützen-Kompanie. Dann trugen die Musiker auch Uniform nämlich die grünen Röcke der deutschen Schützen-Vereine. Und wenn einmal ein besonderer Festzug mehrere Kapellen brauchte, so war eine da - von bestimmt die Zivilkapelle. Da sehr viele entlassene Musiker in Stargard blieben, gab es auch immer ein gut besetztes Blasorchester von der Zivilkapelle. Manchmal konnten sogar zwei Kapellen damit besetzt werden, und das war bei so manchem Festumzug zum 1. Mai oder zum Erntedanktag notwendig. Durch die beim Militär erworbene Routine gab es auch bei solchen Teilungen niemals Patzer oder Fehler. Sie konnten ihre Märsche und Konzertstücke alle noch genau so sicher spielen wie vor ihrer Entlassung vom Militär.
Wir hatten in Stargard einen Brauch, der wohl schon Jahrhunderte alt war: Das Turmblasen. An allen kirchlichen Festtagen, Weihnachten, Ostern und Pfingsten und dazu am Neujahrstage stieg eine Gruppe Musiker auf den Marienkirchturm und blies morgens um sechs Uhr (im Winter um 8 Uhr) vom Wehrgang aus drei Choräle in alle vier Himmelsrichtungen. Meist waren es zwei Trompeten, zwei Tenorhörner, eine Posaune und eine Tuba. Aber in der morgendlichen Stille war die Turmmusik weithin vernehmbar. Das Honorar für die Musiker habe ich während meiner Ausbildungszeit in der Stadthauptkasse mehrmals an sie ausgezahlt. Mit auf den Turm gestiegen bin ich aber nie. Wenn ich am ersten Ostertag früh morgens zur Rasenbank an der Freienwalder Chaussee mit dem Riad gefahren war, um den Sonnenaufgang zu beobachten, kam ich meist noch vor sechs Uhr wieder zu Hause an. Dann hatte Mutter meist schon Kaffee gekocht und ein Stück Streußelkuchen auf den Tisch gestellt, und während wir beide das erste Frühstück aßen, erklang vom Marienturm bei geöffneten Fenstern der österliche Morgengruß.
Ich bin auch einmal bei Blasmusik geboren worden. Der 23. April fiel in meinem Geburtsjahr auf einen Sonntag, und während meiner Geburt standen die Fenster offen, und über den Blücherplatz herein tönte das erste Militär-Gartenkonzert, das erste in jenem Jahre, mit Pauken und Trompeten programmierend herein. Die nächste Gruppe heimatlicher Musik, die ich nun besprechen will, wären die Kirchenkonzerte. Alle Stargarder Kirchen besaßen prächtige Orgeln. Die von St. Marien hatte für drei Manuale 55 Register, und ein 12-PS-Elektromotor sorgte für den nötigen Gebläsewind. Alle Stargarder Kirchen besaßen auch einen guten Organisten und ebenso einen eigenen Kirchenchor. über das tägliche und festtägliche kirchliche Leben hinaus wurden aber immer wieder große Kirchenkonzerte veranstaltet. Dazu taten sich dann entweder mehrere Kirchenchöre zusammen, oder der Musikverein stellte den nötigen Chor.
Musikdirektor Maurer und Musikdirektor Kohlmann begründeten in meiner Lebenszeit diese Tradition,
und unter Fritz Biederstaedt, dem unermüdlich für die Musik tätigen Studienrat unseres
Oberlyzeums, verging kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein Oratorium aufgeführt wurde.
Erklärlicherweise brauchte man sich keine Orchester-Sorgen zu machen. Auch Solisten gab es
in der Stadt, Fräulein Gertrud Lemke als Sopranistin sei zuerst genannt, dazu kommen dann
noch Fräulein Fredrich und andere Namen. Bei den Herren war es schon schlechter. Einmal wirkte
der Lehrer Stuht im Johannes-Oratorium als Bassist mit. Bei weitem die meisten Solisten wurden
aber von außerhalb verpflichtet. Der Tenor Hugo Ehrbar, ein Beamter aus Stettin, hat des öfteren
bei unseren Kirchenkonzerten wichtige Partien gesungen und mit seiner klaren Stimme viele Freunde
besessen.
In der Marienkirche fanden die Kirchenkonzerte anfangs auf dem Orgelchor statt. Bei besonderen Anlässen und umfangreichen Partituren mit vielen Solisten und einem sehr großen Chor und Orchester wurde aber der Hohe Chor vor dem Hochaltar ausgeräumt und dort Platz geschaffen. Bei solchen Anlässen war dann auch die riesige Marienkirche gerammelt voller Menschen. Sowohl in der Johanniskirche wie auch in der Heilig-Geist-Kirche wurden Chor und Orchester immer in großer Enge vor der Orgel aufgestellt. Diese beiden Kirchen eigneten sich an und für sich besser für Kirchenkonzerte als die majestätische Marienkirche, denn hier war die Akustik besser. Der riesige Raum der Marienkirche ließ einen Ton neun Sekunden nachhallen. Aber trotzdem fanden dort die meisten Kirchenkonzerte statt.
Sch�tzenhaus ca. 1920
Quelle: Jolanta Aniszewska "Bilder Stargarder Straßen" 2002
Konzerte anderer Art pflegten in der Aula der Königin-Luise-Schule stattzufinden. Hier hatte der Musikverein seine Konzerte abgehalten, und hier fanden dann ständig die Konzertabende aller Art statt. Unter den Sälen in der Stadt waren wenige geeignet, höchstens das Schützenhaus, denn dort war der größte Saal von Stargard überhaupt. Aber die Lage des Hauses und das Drum und Dran der Restauration waren Mängel, die verhinderten, dass sich hier ein tatsächlicher Mittelpunkt des musikalischen Lebens der Stadt bildete. Ebenso war es mit dem Stadttheater-Saal. An und für sich hätte sich die Aula des Groeningschen Gymnasiums auch für Konzerte geeignet. Auch hier war nicht weniger Platz als in der Königin-Luise-Schule, auch hier stand eine schöne Orgel. Aber das Gymnasium war staatlich, und darum musste hier Saalmiete gezahlt werden, während das Oberlyzeum als städtische Schule leichter und billiger zu bekommen war. Hier wurden also die alljährlich neu eingerichteten Solistenkonzerte vokaler und instrumentaler Art, Kammermusiken und Kammerorchesterabende, auch gelegentlich ein Chorabend veranstaltet. Hier war der Platz für die „Städtischen Konzerte" der „Konzertgemeinde Stargard". Und diese Aula war auch der Rahmen für, die festlichen Veranstaltungen, die 1943 anlässlich der 700-Jahr-Feier stattfanden.
Diese Vorgänge liegen heute, da ich dies niederschreibe, schon rund vierzig Jahre zurück. Wenn mein Gedächtnis auch noch einigermaßen intakt ist, so kann es doch sein, das mir der eine oder andere Vorgang entfallen ist. Zusammen mit Herrn Beehrtet stellte ich schon viele Monate vor Beginn der Konzertsaison ein Wunschprogramm an Solisten und Ensembles zusammen, das wir dann mit Hilfe einer Berliner Konzert-Direktion zu verwirklichen versuchten. Stargarder Konzerte waren nicht allein bei unserm Publikum beliebt, sondern auch bei den Künstlern, die wir zu verpflichten suchten. Etliche haben uns unumwunden gesagt, dass sie stets sehr gern. nach Stargard kämen, viel lieber als z.B. nach Stettin. Wir hatten immer Spitzenkräfte engagiert, und manche aus der allerersten Reihe mehrfach in verschiedenen Jahren nacheinander.
Ich kann mich nur noch auf ein einziges Chorkonzert besinnen, das der heute noch bestehende Berliner Waldo-Favre-Chor bei uns gab. So umfangreiche Vereinigungen konnten wir uns nur selten leisten, denn einmal waren sie an und für sich schon teuer, denn jeder Mitwirkende sollte ja einen guten Anteil bekommen, und dann kam die Frage der Unterbringung für die auf das Konzert folgende Nacht hinzu, wofür die Kosten der Hotels noch zusätzlich auf unsere Rechnung kamen.
Aus dem gleichen Grunde haben wir auch sehr selten Orchester verpflichtet. Wir waren sehr eng verbunden mit dem Orchester der Berliner Musikhochschule mit Professor Fritz Stein. Dies ist mehrfach bei uns zu Gast gewesen und hat u.a. auch bei der 700-Jahr-Feier die „Stargarder Festmusik" von Professor Paul Hoeffer, der diese eigens für unser Stadtjubiläum komponiert hatte, aufgeführt als Welt-Uraufführung mit Fritz Biederstaedt an der Orgel. Recht oft kamen auch Mitglieder der Solistenvereinigung des Orchesters der Berliner Staatsoper zu uns. Ich kann mich da auf mehrere Bläser-Solistenabende besinnen. Aber nur hin und wieder konnten wir uns so aufwendige Aufführungen leisten. Meist waren es Streichquartett-Abende, die unser Publikum in die Aula lockten: Das Stroß-Quartett war bei uns mehrfach zu Gast und ebenso auch das Strub-Quartett. Einmal wurde auch hier eine Uraufführung gebracht mit der letzten Kammerkomposition von Hans Pfitzner, die er dem Quartett gewidmet hatte.
Bevor ich zu einem unserer interessantesten Gäste, nämlich zu Professor Elly Ney komme, will ich aber die Gesangs-Solisten und -Solistinnen betrachten und einige Begebenheiten erzählen, die mit der Grund überhaupt für. diesen Aufsatz gewesen sind. Den Anfang macht der Kammersänger von der Berliner Staatsoper Willi Domgraf-Faßbender, der in den zwanziger und dreißiger Jahren des öfteren als Solist auf dem Stargarder Konzertpodium zu Gast war. Der Bariton mit der weichen, vollen, lyrischen Stimme war in der Zeit der ausgesprochene Liebling der Konzertgäste, und immer wieder wurde die Leitung der Solistenkonzerte bestürmt, ihn wieder zu engagieren. Dass seine Konzerte immer ausverkauft waren, wundert in unserer Stadt niemanden, der unser Konzertleben kannte, denn hier war es eine seltene Absonderlichkeit, wenn einmal ein Konzert nicht ausverkauft war. Ich kann mich aus der Zeit, in der ich die Stargarder "Konzertgemeinde" leitete, nicht eines einzigen Konzerts entsinnen, das nicht ausverkauft gewesen wäre. Aber wenn ein Konzert von Domgraf-Faßbender anstand, so waren die im Vorverkauf angebotenen Karten außer Abonnement wochenlang früher als sonst ausverkauft. Der Sänger war nicht nur ein äußerst charmanter Herr, er war auch umgänglich dem Veranstalter gegenüber, was man beileibe nicht von allen Solisten sagen kann. Mit ihm konnte .ein Programm eines Lieder- oder eines Arienabends bis ins Einzelne besprochen werden, und er pflegte sich gegen unsere Wünsche nicht zu sperren und nahm auch einmal ein ungewöhnliches Lied, eine komplizierte Arie gern in Kauf.
Willi Domgraf-Faßbender war in meiner Dienstzeit der einzige Solist, der einzige Künstler überhaupt, der sich mir gegenüber, der ich damals ein kleiner Stadtassistent und später Stadtsekretär war, niemals hochnäsig gezeigt hat, wie sonst sich Vollakademiker gern Verwaltungsbeamten gegenüber aufführen. Dieser Herr sah nicht in mir den Büroflitzer, der dazu da war, ihm pünktlich sein Honorar zu zahlen, sondern er sah in mir den kunstbeflissenen Mitbürger des gleichen Staates, welcher nicht allein dienstlich mit den Sängern umging, sondern der auch innerlich von seiner kulturfördernden Aufgabe ausgefüllt war. Dass ich eines Tages auch eine Hochschule beziehen und ein Staatsexamen bauen würde, war damals zwar intern geplant, aber niemand zur Kenntnis gelangt und ist erst nach diesem Kriege verwirklicht worden. Dieser Sänger behandelte mich als einziger als ebenbürtigen Mitstreiter für die Musik . Und das hatte eines Tages zu einem Gespräch folgenden Inhaltes geführt:
Stadttheater 1906
Quelle: Jolanta Aniszewska "Bilder Stargarder Straßen" 2002
Aus Mangel an Geldmitteln und auch an Gelegenheit hatte ich bis dahin nur Opernaufführungen in unserm winzigen Stargarder Stadttheater von irgendwelchen mehr oder weniger guten Wanderbühnen zu sehen bekommen. Mir war es dabei immer nur auf die musikalische Seite der Aufführung angekommen. Ich wollte die Komposition kennenlernen, und da ist es von zweitrangiger Bedeutung, ob das in einem Provinztheater, von einer Wanderbühne oder sonstwie dargeboten wird. So hatte ich von etlichen Opern, die ich hatte daheim besuchen können, doch einen ungefähren Eindruck, konnte Rezitativ und Arie unterscheiden und kannte die Charakterfächer und die Besetzung und den Inhalt der Oper. Ich bin überhaupt der Meinung, dass ein musikbeflissener Jugendlicher sich zunächst in einem Provinztheater anlernen lassen sollte, bevor er in die Großstadt zur berühmten Staatsoper zieht.
Diese meine Schwierigkeiten trug ich ihm vor, bedauernd, dass ich noch keine Gelegenheit gehabt hätte, in ein Berliner Operntheater zukommen. Und wenn ich schon einmal aus irgendwelchen dienstlichen Gründen nach Berlin fahren könnte, dann wäre es immer noch fraglich, ob an dem betreffenden Abend auch eine sehenswerte Oper geboten würde und dann noch, ob ich dann noch eine einigermaßen gute Eintrittskarte würde bekommen können. Der Künstler lud mich ein, ihn in der Staatsoper zu besuchen oder ihn, wenn sich eine Besuchsgelegenheit in Berlin ergäbe, wenigstens anzurufen. Er wollte mir dann Bescheid zukommen lassen, ob sich für mich der Besuch lohnen würde und ob noch Karten zu haben wären.
Wochen oder auch Monate vergingen, und dann musste ich wegen irgendeiner anderen Angelegenheit nach Berlin fahren. Ich glaube, es war der Einkauf einer Plastik, den ich zu tätigen hatte. Jetzt sollte sich die Freundlichkeit Domgraf-Faßbenders als echt erweisen. Ich rief von meinem Dienstzimmer im Dachgeschoss unseres Rathauses in Berlin bei der Staatsoper an, ließ mich mit dem Sänger verbinden. Dieser erkannte mich sogleich wieder und entsann sich seines Angebotes. Er hörte sich meine Erklärungen an und beschied mich dann zu einer zweiten telefonischen Rücksprache in zwei Stunden. Als ich zu der gegebenen Zeit anrief, war die Telefonistin in der Zentrale bereits von ihm informiert. Er ließ mich grüßen und mir bestellen., dass er nicht an dem von mir vorgeschlagenen Tage eine Oper singen würde, wohl aber zwei Tage später. Es gebe dann die beiden stets als Zwillinge aufgeführten Opern, den „Bajazzo" und „Cavalleria Rusticana". Er sänge in beiden Opern Hauptrollen und würde sich freuen, wenn es mir gelänge, meine Reise zu verlegen. In dem Falle möchte ich dann wegen der Eintrittskarten noch einmal anrufen. Er wolle dann versuchen, mir besonders schöne Plätze auszusuchen.
Die Verlegung der Reise war eine Kleinigkeit, bedurfte nur einer kurzen Rücksprache mit Oberbürgermeister Dr. Völker. So war ich nach kurzer Zeit wieder telefonisch mit Berlin Unter den Linden verbunden und erfuhr, dass ich mich an dem vereinbarten Abend bei dem Portier für den Bühneneingang hinter dem Opernhaus melden solle. Dort würden die für mich ausgesuchten Karten gegen Bezahlung abzufordern sein. Es seien zwei Karten, eine für mich und eine andere für meine Frau, und sie kosteten je elf Mark. Voller Freude unternahm ich meine Reise, kaufte die Skulptur und ging gegen Abend mit meinem Onkel, dem Berliner Maler Otto Thiele, zur Oper. Meine Frau konnte leider nicht wegen der Kinder mitfahren. Bei dem Portier waren die beiden Karten für mich bereitgelegt. Ich bezahlte sie und schritt dann mit freudevoller Brust durch den Haupteingang ins Opernhaus. Wie waren wir beide überrascht, als wir zu unsern Plätzen gewiesen wurden! Es waren die beiden Mittelplätze in der ersten Reihe, dicht vor der Bühne, unmittelbar hinter der Orchester-Brüstung. Wenn ich mich ein wenig vorbeugte, konnte ich bequem in das Orchester hinunter sehen, der Dirigentenplatz war knapp links neben uns, die Bühnenrampe zum Greifen nahe. Mein Onkel meinte, er sei ja schon oft hier in der Oper gewesen, aber solch einen prachtvollen Platz hätte er noch nicht gehabt. Meine Stimmung, der ich zum erstenmal in einem großen Opernhaus saß, war entsprechend. Und doch sollte dieser Opernbesuch noch für mich ganz persönlich zu einem einmaligen, besonderen Ereignis werden.
In der Oper ,,Der Bajazzo" von Leoncavallo sang Franz Völker den Canio und Willi Domgraf-Faßbender den Tonio. Ebenso waren die Stimmen in ,,Cavalleria rusticana" verteilt. Hier sang Domgraf-Faßbender den Alfio. Die Aufführung war prächtig, der Beifall stark und anhaltend. Die Solisten mussten mehrfach vor den Vorhang treten und den Applaus mit Verbeugungen quittieren. Gleich beim ersten Vorhang suchte Domgraf-Faßbender die erste Reihe ab, und als er mich gefunden hatte, winkte er mir freundlich zur Begrüßung zu. Alle Augen aus dem Parkett hefteten sich auf mich kleinen Provinzler, und ich bekam einen roten Kopf. Als ich mich ein paar Tage später telefonisch bei ihm bedankte, fragte er, ob ich auch gut hätte sehen und hören können. Er habe sich um einen ausgesucht guten Platz für mich bemüht. Und ob mir der Eintrittspreis auch zu hoch gewesen sei. Er hätte nämlich bereits vorher fünfzig Prozent aus eigener Tasche vorausbezahlt.
Woran es gelegen hat, weiß ich auch bei intensivem Nachdenken nicht zu sagen: Aber Willi Domgraf-Faßbender wurde nicht mehr nach Stargard verpflichtet. Es mag ein Zufall sein, es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es auf Intrigen beruhte. Jedenfalls wurde die Kette seiner Liederabende in unserer Aula abgelöst durch eine neue Kette von Liederabenden des Berliner Tenors Walter Ludwig. Sein strahlender Tenor erwarb ihm in den Herzen der Stargarder Konzertgemeinde sehr bald den ersten Platz. Obgleich er ein charmanter Herr war, bin ich mit ihm nie warm geworden. Trotzdem war er eine Zeitlang Jahr für Jahr unser Gast.
Wir haben aber nicht ausschließlich Sänger dieser Größenordnung engagiert, sondern auch solche der zweiten Garnitur. Ich kann mich auf einen Balladenabend mit einem Herrn besinnen - den Namen will ich nicht nennen, der blieb in einer Loewe-Ballade zweimal an der gleichen Stelle stecken. Herr Biederstaedt war sein Pianist. Als die Panne zum erstenmal eintrat, machte Biederstaedt eine kurze Pause, sagte "noch einmal von vorn", und dann versagte der Herr an der gleichen Stelle abermals. Jetzt sagte Biederstaedt zu ihm "stellen Sie sich hinter mich und sehen Sie in die Noten". Dann ging es nochmals von vorn los, und die Ballade kam zum guten Ende. Es ist klar, das wir diesen Herrn nicht noch einmal engagiert haben. Eine Sängerin war übrigens auch einmal mitten in der Arie hängen geblieben und fing noch einmal von vorn an, und eine andere hatte einen Kloß im Halse, der ihre sonst schöne und klare Stimme schleimig behinderte. Mitten in ihrer Darbietung ging sie dann plötzlich auf Fortissimo über, und der Kloß wurde mit einem „Schleimbalzer", wie die Dame sich später entschuldigend ausdrückte, hinausbefördert.
Nett war ein Erlebnis mit der Sängerin Irma Beilke vom Deutschen Opernhaus Berlin. Wir hatten sie im Kriege zu einem Lieder- und Arienabend auf einen 31. März verpflichtet. Herr Biederstaedt war als Hauptmann im Felde, und ich besorgte wie gewohnt die Äußerlichkeiten so eines Solisten-Besuches. Sie kam allein, und ihr Pianist traf später ein. Ich hatte sie im Hotel „Prinz von Preußen" in der Poststraße einquartiert, und alles war in bester Ordnung. Die Dame hatte in der Nähe unserer Stadt ein paar Verwandte auf dem Lande wohnen, und wir hatten dafür Freikarten zur Verfügung gestellt. In diesen Kriegszeiten war es nicht ganz einfach, Gesangs-Solisten so zu traktieren, wie es wohl heute möglich wäre und wie wir es auch damals gern gemacht hätten. Jedenfalls bat mich Frau Beilke um Gelegenheit, sich für den Abend einzusingen. Ich besaß zwar keinen Flügel, aber ein ausgezeichnetes Klavier, und so lud ich die Künstlerin nebst dem inzwischen auch eingetroffenen Pianisten zu mir zum Kaffeetrinken ein und zum nachfolgenden Einsingen. Dass die Dame nicht mehr ganz jugendlich war, wussten wir, und ich hatte sie auf dem Bahnhof bereits gesehen, kannte sie auch von voraufgegangen Konzertabenden aus der Nähe. Das Alter und das Aussehen einer Sängerin spielen bei Gesangsdarbietungen keine Rolle. Das ist nur etwas fürs Auge. Aber da waren wir daheim auch etwas anspruchsvoll, denn beispielsweise war Erna Berger, die auch eine ganze Serie hervorragender Lieder- und Arien-Abende bei uns absolvierte, nicht nur für das Ohr ein Himmelsgeschenk, sondern auch als Person eine Augenweide. Kurz, als die Nachmittags-Probe vorbei war und die Sängerin mit dem Pianisten wieder ins Hotel gebracht waren, waren wir, meine Frau und ich, neugierig, wie sich die Sängerin am Abend wohl präsentieren würde. Wir trauten dann in der Aula unsern Augen nicht :Die Solistin sah aus wie höchstens fünfundzwanzig, liebreizend, anmutig und eine Augenweide. Wir waren hell begeistert, und ich war froh, dass ich für sie einen besonders schönen Blumenstrauß hatte erstehen können.
Das dicke Ende aber kam dann noch nach: Der Hausdiener im Hotel hatte Anweisung bekommen, die Sängerin morgens um halb sechs Uhr zu wecken, damit sie den D-Zug nach Berlin um 6.13 Uhr bekäme. Nun war aber in der Nacht vom 31. März zum 1. April um Mitternacht die „Sommerzeit" eingetreten, d.h. alle Uhren waren um eine Stunde weiter gestellt worden. Als der Hoteldiener nun um halb sechs weckte, war es nach der Sommerzeit schon halb sieben, und der D-Zug nach Berlin war längst weg. In ihrer Bedrängnis holte mich die Dame aus den Federn, aber ich konnte sie auch nicht mit einem Taxi nach Berlin fahren lassen, denn es war Krieg. Ich konnte sie nur auf den nächsten nach Berlin abgehenden Zug verweisen, mit dem sie zwar nicht zu zehn Uhr bei der Opernprobe würde erscheinen können, aber es war überhaupt die einzige Möglichkeit, die sie wahrnehmen konnte und musste. Trotz dieser höchst ärgerlichen Panne, die zu Lasten des Hotels gegangen wäre, schieden wir im Einvernehmen voneinander. Ich bat sie, mir mitzuteilen, ob sie Krach bei der Oper bekommen hätte oder, was sie befürchtete, wenn sie aus dem Ensemble gefeuert würde. Dann müssten wir die Haftpflichtversicherungen� mobil machen und zu retten versuchen, was da noch zu retten sei. - Nun, sie hat nicht wieder etwas von sich hören lassen. Also scheint in Berlin doch alles glatt gegangen zu sein. Wir hatten in Stargard hernach nicht mehr Gelegenheit, die Dame zu engagieren, der Verlauf des Krieges machte es unmöglich.
Die Kammersängerin Erna Berger, von der Wilhelm Furtwängler einmal gesagt hat „sie ist unsere Beste", gastierte in unserer Aula mehrmals mit größtem Erfolg. Nachdem sie erst einmal für uns gewonnen war, hatten wir nie Mühe, sie erneut zu verpflichten. Es war bei uns üblich, nach besonders gelungenen Konzertabenden eine Nachfeier in engerem Kreise zu veranstalten. Diese fanden meist im Hause des städtischen Musikbeauftragten Studienrat Biederstaedt statt. Die Nachfeier nach dem ersten Konzertabend mit Erna Berger aber fand im Saal des Hotels „Pommerscher Hof" in der Bahnhofstraße 10 statt. Wir hatten uns für diesen erlesenen Gast auch eine erlesene Überraschung einfallen lassen. Das Konzert hatte am Abend eines 24. April stattgefunden, aber trotzdem konnten wir eine Erdbeerbowle aus frischen Erdbeeren anbieten. Stadtrat Adolf Jaecks hatte das Kunststück fertiggebracht, frische Erdbeeren zu liefern. Er war zwar Gärtner, aber er hat mir nicht verraten, wo er die Erdbeeren hergezaubert hat. Aus seinem Garten waren sie nicht.
Mit dem Essen und Trinken der Solisten gab es manche Kuriosität. Einmal war eine Gesangs-Solistin in meiner Wohnung zu Gast, auch im Kriege, und wir waren stolz, zum Abendbrot zwei Sorten Wurst und dazu noch zwei Sorten Käse auftischen zu können. Wegen unserer großen Familie hatten wir damals gerade reichlich Lebensmittelmarken, und so ließ sich das machen. Doch die Sängerin sagte: „Vielen Dank, Frau Stampa, aber Wurst kann ich leider nicht nehmen, denn das verträgt meine Stimme nicht, ich kann dann nicht singen. Ich Mus immer Käse essen." Nun, dann aß sie eben Käse!
An die Namen von drei Instrumental-Solisten knüpfen sich auch noch besondere Erinnerungen. Da war zunächst einer, der nicht bei uns gastiert hat, denn ihm ging der Ruf voraus, dass nach seinem Klavierabend stets der Flügel reparaturbedürftig sei, er schlüge ihn in Grund und Boden. Darauf wollten wir es nicht ankommen lassen. Aber Edwin Fischer hat bei uns auf unserm Blüthner-Flügel gespielt und ebenso Eugen d Albert. Als der Geiger Eugen Telmanyi bei uns zu Gast war, wurde er von seiner Gattin am Flügel begleitet. Bei der Besichtigung unseres Konzertsaales beanstandete er, das wir „nur" einen Blüthner-Flügel besäßen und nicht einen Steinway. Er wollte allen Ernstes deswegen das Konzert absagen, denn seine Frau sollte sich nicht auf unserm dörflichen Instrument die Finger zerschlagen. Nun, das Konzert fand doch statt, die Dame benutzte unsern Blüthner und zerschlug sich nicht die Finger.
Und nun zu Elly Ney! Die Künstlerin spielte nur Beethoven-Sonaten auf ihren Konzert-Tourneen. Sie galt allgemein als ein wenig schwierig und unnahbar. Ich kann das nicht bestätigen, im Gegenteil: Gerade sie hat sich bei uns von einer Liebenswürdigkeit gezeigt, die unglaublich ist. Wir hatten sie schon mehrfach zu Klavierabenden bei uns gehabt. Dieser Konzertabend - es war ihr letzter bei uns - fand 1944 statt. Damals war allabendlich Fliegeralarm. Jeden Abend gingen die Sirenen, jeden Abend wurde Stettin bombardiert, jeden Abend war der Himmel rot. Aus diesem Grunde legten wir unsere Konzertabende, die trotz des Krieges weiterhin gut besucht waren, auf den späten Nachmittag statt der Abende. So war dieser Klavierabend mit Elly Ney auf 17 Uhr angesetzt. Das Konzert war ausverkauft. Auf dem Progranim standen die Waldstein-Sonate, die Hammerklavier-Sonate und die Appassionata. Mit gewohnter Präzision und mit gewohntem Beifall spielte die Künstlerin diese drei schweren und langen Kompositionen Beethovens und war kurz nach halb sieben am Abend fertig. Sie fügte auch noch, wie üblich eine Zugabe an, und zwar Beethovens Ekossaisen, die ich nie wieder so herrlich gehört habe. Danach verließ das Publikum den Saal. Frau Professor Ney jedoch blieb und bat mich um die Erlaubnis, dass sie auf unserm "schönen Flügel» noch ihr Programm für den kommenden Abend, der sie nach Stolp führen sollte, durchspielen dürfte. Ich sagte mit Freuden ja, denn nun hatte ich Gelegenheit, noch ein zweites Klavierkonzert von Elly Ney zu hören. Die Künstlerin betrat also wieder den leeren Saal, setzte sich an den Flügel und begann zu spielen. Ich blieb, um sie nicht zu stören, bei geöffneter Tür im Künstlerzimmer und hörte ihr zu.
Da klopfte es zaghaft an der Tür. Als ich öffnete, standen draußen drei Unteroffiziere aus meiner Kompanie. Sie wunderten sich, dass das Konzert schon begonnen hätte, - kurz, sie hatten die Uhrzeit verwechselt und waren um sieben Uhr gekommen anstatt um siebzehn Uhr. Ich verhandelte mit ihnen im Flüsterton und versprach, die Dame zu fragen, ob sie erlaubte, dass die drei verspäteten Soldaten ihrem Üben für den kommenden Konzertabend zuhören dürften. Als sie eine Pause machte, schlich ich zu ihr an den Flügel und eröffnete ihr unser Anliegen. Sofort war sie bereit, die drei Soldaten zuhören zu lassen. Sie begrüßte die drei Kameraden sogar noch mit ein paar freundlichen Worten. Diese setzten sich in die erste Reihe, und ich verschwand wieder im Künstlerzimmer. Es wäre ja möglich gewesen, dass noch mehr Nachzügler kämen. Als ich da so saß und dem Klavierspiel zuhörte, kam mir das, was Elly Ney da drinnen spielte, so bekannt vor, und richtig: Sie hat es mir nachher lachend bestätigt! Sie spielte den drei Unteroffizieren noch einmal das gesamte Programm des eben verflossenen Abends vor, die Waldstein-Sonate, die Hammerklavier-Sonate und die Appassionata. Die drei unbedarften Soldaten hatten davon keine Ahnung. Sie waren solche Musik nicht gewöhnt und waren nur gekommen, weil ich in der Kaserne ein paar Freikarten verteilt hatte. Ich habe es ihnen erst am nächsten Morgen, als wir uns bei Dienstbeginn in der Kaserne trafen, erzählt. Dies war das glänzendste Konzert, das ich in meiner Dienstzeit als Konzert-Veranstalter der Stadt Stargard erlebt habe!
Zum Abschluss dieses Kapitels bleibt nur noch der Ballett-Abend mit den Geschwistern Hedi und Margot Höpfner zu berichten. Der wäre nämlich trotz allergrößter Mühe beinahe baden gegangen! Es war eigentlich kein Ballett-Abend, sondern eine Matinee. Es war allgemein schwer, die beiden damals weltbekannten Schwestern nach Stargard zu verpflichten. Neben einem hübschen Honorar für sie beide und den Pianisten waren noch allerlei Bedingungen zu erfüllen, die von geschulten Garderobieren bis zur farbigen Scheinwerfer-Beleuchtung reichten. Die Vorführung sollte nach unserm Plan im Lichtspielhaus "Capitol" in der Bahnhofstraße stattfinden, weil dort die Beleuchtungseffekte nebst dazugehöriger Verdunkelung am leichtesten zu bewerkstelligen waren. Mit dem "Stadttheater", einem Saal-Restaurant in Privatbesitz, standen wir damals auf Kriegsfuß, auch hätten sich auf dem dortigen Bühnen-Fußboden die beiden Damen Hals und Beine brechen können. Um allen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, schickte ich einen Bühnengrundriss an die Künstlerinnen ein, erhielt zustimmenden Bescheid und war guter Dinge. Auch die Scheinwerfer-Frage hatte ich geklärt. Als es dann aber so weit war, funktionierte nichts. Ich bekam keine Scheinwerfer, keinen Flügel, keine Beleuchter, keine Garderobenständer für die Tanzkleider. Der Kinobesitzer weigerte sich plötzlich, die Leinwand zu entfernen, so dass die Bühne praktisch unbenutzbar wurde. Nur beide Garderobieren, die wir vom Stadttheater Stettin ausgeliehen hatten, waren da. Als dann die Tänzerinnen eintrafen und alles besahen, was sie zuvor genehmigt hatten, weigerten sie sich aufzutreten. Sie wollten stattdessen uns lieber unsern Ausfall und unsere Unkosten bezahlen. Damit war uns aber nicht gedient, denn die Veranstaltung war ausverkauft. Um halb elf waren wir uns noch nicht einig geworden. Mir schwammen alle Felle davon.
Da kam mir der rettende Gedanke, ohne Scheinwerfer in unserer gewohnten Lyzeums-Aula auszukommen. Die beiden Damen inspizierten das unweit gelegene Gebäude und akzeptierten den Umzug. Während die inzwischen in voller Stärke eingetroffenen Besucher unserer Matinee von den Schwierigkeiten informiert und umdirigiert wurden, wurde der Neubeginn auf 12 Uhr verlegt und alles Publikum in die Aula zur gegebenen Zeit gebeten. Das hat damals viel böses Blut gesetzt! Die beiden Tänzerinnen bezogen je einen Klassenraum als Garderobe. Die beiden Garderobieren plätteten und bügelten, das es nur so qualmte, das Publikum stand in der Aula und auf den Fluren herum und gab seiner Unzufriedenheit in den markigsten Ausdrücken Luft. Es war eine Stimmung zum Ausreißen! Als dann aber das Licht überall angeschaltet wurde, als der Pianist an unserm Flügel Platz genommen hatte und die beiden Damen zum ersten Tanz antraten, war alles Dunkel verschwunden, und die Schönheit der beiden Schwestern in der Schönheit ihres Tanzes ließ die düsteren Mienen wieder hell werden. Trotz aller Schwierigkeiten war diese Tanz-Matinee, die mit dem ,,Kaiserwalzer" abschloss, ein herrlicher einmaliger Genuss.
Aber ich ließ mich nicht ein zweites Mal auf einen Ballett-Abend ein. Ich hatte die Nase voll von diesem einen. Unsere letzte Kultur-Veranstaltung in Stargard war das oben besprochene Klavierkonzert mit Elly Ney. Das November-Konzert musste schon abgesagt werden, weil die Schule als Reserve-Lazarett beschlagnahmt wurde. In der Aula lagen dann Schwerverwundete. Ich bin zum letztenmal dort zur Soldaten-Weihnachtsfeier gewesen. Ich spielte für die Verwundeten auf unserer Orgel Weihnachtslieder, durfte aber keinen Orgelstrom verbrauchen. Die beiden Kameraden, die dann die Bälge traten, hatten das wohl noch nie gemacht, und die Orgel wimmerte, als ob sie das nahe Ende vorausspürte. Nach Neujahr kam ich dann auch an die Front. Die Königin-Luise-Schule, unser Oberlyzeum, in dessen Aula unsere städtischen Konzertveranstaltungen stattgefunden hatten, hat den Krieg unversehrt überdauert und wird jetzt von den Polen als Akademiegebäude verwendet. Die Aula ist noch heil und benutzbar, aber die Orgel ist von den Russen abgebaut und in den Osten abtransportiert worden, der Blüthnerflügel ebenfalls.
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