Meine Soldatenzeit
Horst Beckmann
Am Johannishof 27, 31655 Stadthagen
verstorben 2013
Wie viele junge Männer habe ich mich zur Wehrmacht freiwillig gemeldet. Vater hat nichts davon gewusst, hätte es auch nicht wissen dürfen. Aber ich hatte für meine Entscheidung einen besonderen Grund. So wurde ich am 6. Oktober 1943 als Kriegsfreiwilliger zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen. Den Stellungsbefehl nahmen meine Eltern in meiner Gegenwart auf dem Hausflur entgegen. Als sie ihn mir vorlasen, ergriff ich einen Besen, den Stiel zwischen den Beinen und ritt jubelnd im Flur herum. Meine Mutter „Da freust du dich noch?" Und Vater: „Ich seh' das kommen: Du kommst eines Tages noch mit einem Panzerwagen in den Urlaub." Vater kannte mich. Ich war immer schon etwas verrückt und jetzt erst 16 Jahre alt. Aber nur wer sich freiwillig meldet, kam zu der Einheit, die er sich wünschte. Für mich war es die Luftwaffe, das fliegende Personal, zumal ich während der Hitlerjugendzeit Segelflieger war. Für mich war auf dem Segelflugplatz an der Freienwalder Chaussee die schönste Jugendzeit.
Alle eingezogenen Kameraden kamen um diese Zeit schon zur Waffen-SS, zu der ich mich nicht hingezogen fühlte. So wurde ich nach Ferdinandstein eingezogen, wo wir als Arbeitsdienstleute die Grundausbildung mit dem Spaten bekamen. Dann kamen wir in Bereitschaft für den Kriegseinsatz auf dem Flugplatz in Barth bei Stralsund. Die Feindeinflüge englischer und amerikanischer Bomberverbände nahmen zu, so dass wir für die Luftabwehr eingesetzt wurden. Am 6. Januar 1944 war die RAD-Zeit beendet. Ich erlebte also das erste Weihnachtsfest nicht in der Familie, ein Weihnachtsfest, das nichts mit der christlichen Botschaft zu tun hatte. Tee mit Rum und Grog flossen an dem Abend nach Herzens Lust. So wurden wir fröhlich auf andere Weise. Auch ich hatte eine lose Zunge bekommen. Da machte ich mich an den Spieß unserer Einheit (Hauptscharführer, beim Heer Hauptfeldwebel.) heran, der genau so in Stimmung war wie wir. Er war gelernter Tischler wie mein Vater. Und auch ich hatte die Lehre in Vaters Betrieb auf seine Veranlassung begonnen, während meine Klassenkameraden in Stettin als Luftwaffenhelfer eingesetzt wurden. Eine weise Entscheidung meines Vaters, wie sich später herausstellte. Dem Vorgesetzten aus gleicher Zunft bot ich bei der Weihnachtsfeier die Brüderschaft an und er machte mit. Alles amüsierte sich. Am nächsten Morgen traten wir wie immer zum Exerzieren an. Der Spieß nahm die Kompanie ab, und als er vor mir stand, schrie er:
Beckmann raustreten! Zehnmal um die Einheit, marsch, marsch!" Immer wenn ich nach der Runde in seine Nähe war, schrie er mich an: „Brüderschaft trinken! Brüderschaft! Hinlegen, auf marsch, marsch! Brüderschaft! Hinlegen; auf marsch, marsch!" So machte er mich dann fertig. Und alles amüsierte sich wieder. Das waren die Erinnerungen an den ersten „Heiligen" Abend in der Fremde.
Nach der Entlassung aus dem RAD war ich kaum zu Hause, als der Stellungsbefehl zur Luftnachrichtentruppe nach AugsburgPfersee kam. Dort wurden wir eingekleidet und bekamen den ersten Soldatenschliff. Begleitend erlebten wir die Bombardierung Augsburgs.
Als unser neu eingezogene Einheit zusammengestellt war, kamen wir mit dem Truppentransport nach Chaumont an der Marne. Chaumont war wie auch Stargard Garnisonsstadt, also mit einem großen Kasernenbereich. Drei Monate war dort unser Aufenthalt für die Rekrutenzeit, in der wir die notwendige Frontausbildung bekamen. Grundsätzlich war es trotz vielen Exerzierens eine erträgliche Zeit, besonders wenn man an die Kameraden denken musste, die zur gleichen Zeit an harten Fronten zu kämpfen hatten. Wir bekamen auch regelmäßig Ausgang in die Stadt. Eigentlich mussten wir immer wegen der Partisanen, die es auch dort unter den Zivilisten gab, zu zweit gehen mit durchgeladenem Gewehr und fünf Patronen. Wie ich dazu kam, einmal alleine auszugehen, weiß ich nicht mehr. Ich traf dann auf einen gut deutsch sprechenden Franzosen. Lange haben wir uns unterhalten, bis er dann mein Gewehr ins Auge nahm und fragte: „Ist das noch der Karabiner 98 wie im ersten Weltkrieg? Darf ich mal haben?" Bis heute weiß ich nicht, wie ich so leichtsinnig sein konnte, mein Gewehr aus der Hand zu geben, aber er gab es mir dann auch zurück und wir unterhielten uns weiter. Hätte das Verhalten mein Vorgesetzter erfahren, wäre ich sicher für einige Tage in den Bau gekommen.
Eine weitere Erinnerung habe ich: Wir wurden von jungen Kameraden ausgebildet, die man für diesen Zweck als gute Soldaten von der letzten Rekruteneinheit zurückbehalten hatte. Sie trugen an den Schulterklappen nur eine Litze, und wir mussten sie auch auf dem Kasernenhof grüßen. Eines Tages ging es durch die Einheit: Ein Ausbilder hatte von anderen Kameraden Feldpostpakete unterschlagen. Er wurde sofort festgesetzt. Kam in eine Stube, deren Fenster und die Türe wir mit Möbeln verbarrikadieren mussten. „Warum tut ihr das? Ich laufe doch nicht weg," fragte er mit weinerlicher Stimme. Er tat mir wirklich leid, denn nach wenigen Tagen wurde er abgeholt zum Kriegsgericht. Man sprach von Todesstrafe durch erschießen. Wir haben nie mehr von ihm gehört.
Nach Abschluss der Rekrutenzeit in Chaumont wurden wir wieder als Truppentransport in Güterwagen verladen und fuhren etwa 10 Tage durch Deutschland nach Dievenow auf der Insel Wollin an der Ostsee. Dievenow hatte außer einem großen Luftwaffenkasernenbereich einen Seeflugplatz, wo das Flugboot BV 138 beheimatet war. (BV = Blom- und Voßwerke). In diesen Seeflugbooten wurden wir am 100-Watt Funkgerät als Bordfunker ausgebildet. Wenn ich an meinen bisherigen Arbeits- und Militärdienst zurückdenke, muss ich gestehen, dass alles seinen guten Verlauf genommen hat.
Aber dann kam der 20. Juli 1944, der fehlgeschlagene Anschlag auf Hitler durch Claus Graf Schenk von Staufenberg. Schon am nächsten Tag musste unsere gesamte Einheit, alles, was in Dievenow stationiert war, morgens antreten. Oberst Kraus verkündete den Mordanschlag und gebot, dass wir ab sofort mit dem deutschen Gruß, also erhobener Hand grüßen mussten. Gleichzeitig erfuhren wir, dass die Bordfunkerschule aufgelöst wurde und wir entscheiden mussten, ob wir zum Heer oder zur Fallschirmtruppe versetzt werden wollten. Ich entschied mich für die Fallschirmeinheit, war dann aber nach einer neuen Musterung nicht fallschirmspringertauglich. So kam ich dann mit vielen anderen Kameraden in den nächsten Tagen wieder mit dem Güterwagentransport nach Offendor in Elsaß-Lothringen. Wir trauten unseren Augen nicht, als wir über dem Kaserneneingang in großen Lettern lasen: Heinrich-Himmler-Kaserne. Wir waren bei der Waffen-SS! Dort sollten wir noch einmal sechs Wochen eine Rekrutenzeit absolvieren, weil man unsere Ausbildung als Schlipssoldaten, wie man das fliegende Personal titulierte (denn wir trugen tatsächlich zum Ausgang eine Krawatte), nicht anerkannte. Die Ausbildung wurde aber wegen dringender Fronteinsätze abgebrochen. So kamen wir mit LKWs in Richtung Westen zu der kämpfenden SS-Division „Götz von Berlichingen", die sich gerade für einen Großangriff rüstete auf die von den Amerikanern eroberte Höhe 308 im Elsaß. Mein erster großer Fronteinsatz, bei dem unsere Division völlig ausblutete. Wir hatten aber die Höhe erobert und so nun einen festen Einblick in die feindliche Stellung. Einige Tage haben wir uns dort oben in Kampflöchern verschanzt. Es war am Morgen. Mit einem anderen Kameraden aus Vorarlberg, Tirol teilte ich das Schützenloch. Neugierig, wie Beckmann war, richtete ich mich hoch auf, um kurz mal gute Feindeinsicht zu haben. Da schrie mich mein Kompaniechef, ein Oberleutnant an, sprang aus seinem gegenüberliegenden Schützenloch heraus und kam auf mich zu: „Beckmann, halt den Dötz runter!" Kaum hatte er das ausgesprochen, traf ihn ein Granatsplitter am Hals und er war tot. War ich schuld? Das hat mich lange beschäftigt. Mit vier Kameraden haben wir ihn zwei Tage später auf einer Zeltbahn in die Etappe getragen, damit er auf einem Friedhof beerdigt werden konnte. Das war bei Offizieren üblich, wenn es sich ergab. Wir mussten dann aber die Höhe räumen und kamen auf dem Rückzug durch ein Waldgebiet, das übersät war von gefallenen jungen Kameraden, alle in meinem Alter. Auch die Baumgruppen waren wegrasiert, als hätten die Amerikaner dort die Stalinorgel eingesetzt.
Wir kamen dann in einen Stellungskrieg; mussten uns also wieder Schützenlöcher ausgraben, Einmannlöcher nebeneinander am Waldrand entlang. Wenn Granatwerfer einschlugen, riefen wir zum Nachbarkameraden, ob er noch lebe oder verwundet sei. So hielten wir dort eine Zeit aus, mussten aber nachts in Abwechslung zu jeweils zwei Kameraden zu einer vorgeschobenen Stellung, um die Kameraden, die dort als Horchposten lagen, mit Verpflegung zu versorgen und Informationen zurückbringen. Der Weg war sehr gefährlich, führte durch ein vermintes Wald- und Moorgebiet. Einmal wurde ich dafür mit einem anderen Kameraden zusammen eingesetzt. Ich gestehe, dass wir Blut und Wasser während des ganzen Nachtmarsches geschwitzt haben und froh waren, als wir wieder in unseren Schützenlöchern lagen, die wir mit rauchenden Zigaretten erwärmten. In der nächsten Nacht eine laute Detonation. Am Morgen hörten wir, dass einer meiner besten Freunde, ein Kölner, bei der nächtlichen Aktion auf eine Mine gelaufen und völlig zerfetzt worden war. Das hätte ich auch sein können! So waren dann unsere Gedanken.
Eines Abends hörte ich bei meinem Nachbarkameraden den Furier, der das Essen brachte, den Namen unseres Bataillonskommandeurs „Zorn" sagen. Als er zu mir kam, fragte ich, wie der mit Vornamen heiße. „Werner!" Ich glaubte nicht recht zu hören. Werner Zorn war mein Vetter. Wir wussten in der Verwandtschaft nur, dass er als Offizier vom Heer wegen angebotener Vorteile zur Waffen-SS gewechselt hatte. Ich habe keinem Kameraden davon etwas gesagt, habe mich auch nicht zum Bataillonsgefechtsstand gemeldet. (Erst nach dem Krieg habe ich Werner erzählt, dass er an der Front bei der „Götz" mein Vorgesetzter war. "Du alter Esel," sagte er, „hättest du dich gemeldet, wäre für uns an der Front einen Tag lang Frieden gewesen und ich hätte den besten Wein serviert. Immer, wenn sich bei mir ein Stargarder aus der Division meldete, habe ich mit ihm eine Stunde Pause gemacht. Und wir beide...?"- Zorns wohnten in der Bergstraße. Der Vater war im 1. Weltkrieg gefallen, Werners älterer Bruder Erwin im 2. Weltkrieg.)
Wir kamen dann zurück in die Etappe, in ein Dorf, in dem wir entlaust wurden. Weil unsere Division völlig aufgerieben war, verlud man uns dann wieder in Güterwagen und wir kamen nach Stendal in die Garnisonskaserne. Dort hatte man uns wieder aufgebaut. Wir durften auch Besuch von Angehörigen empfangen. Auch meine Eltern kamen. Über den Besuch und seine Folgen habe ich ausführlich in meinem Buch „Aus Großmutters Zeiten" berichtet.
Es war Mitte Januar, als wir in Stendal wieder für den Fronteinsatz neu ausgerüstet wurden. Ich kam dann zu einer neu zusammengestellten Truppe. Wir wurden wieder im Güterzug verladen und an die Westfront gebracht.
In Moers hatten wir wegen eines Bombenangriffs längeren Aufenthalt. Immer wieder kamen mir bei derartigen Erlebnissen die Fragen nach dem Sinn und Unsinn des Krieges. Da müssen Menschen mit Flugzeugen in die Luft steigen, über die aus der Vogelperspektive noch schöne Erde fliegen - ein jahrtausendalter Menschheitstraum hat sich endlich erfüllt - und sie haben keine andere Aufgabe, als friedlich lebenden Menschen zum großen Schrecken zu werden und sie zu vernichten. Unvorstellbarer Wahnsinn!
Dann kamen wir schließlich nach vielem Hin- und Herfahren bei der „SS-Division Frundsberg" an, die auch im Nordabschnitt ziemlich aufgerieben wurde. Sie brauchte uns als Nachschub.
Meine Erinnerungen verlassen mich hier, aber ich vermute, dass wir wie auch im vergangenen Herbst mit der SS-Division „Götz von Berlichingen" im Elsaß eingesetzt wurden. Nach diesem Einsatz kam es zur neuen Truppenverschiebung. Es muss am 11. Februar gewesen sein, als wir in Hinterpommern waren. Ein Truppentransport durch Deutschland, von einer Front zur anderen dauerte immer mehrere Tage. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als mein Unterscharführer (Unteroffizier) mich im Güterwagen aus dem Schlaf rief: „Beckmann, weißt du wo du bist?" „Wie sollte ich," fragte ich verschlafen zurück „Du bist in Stargard auf dem Güterbahnhof. Hier wird entladen." Stargard, meine Heimatstadt! Wir wohnten am Markt. Noch waren die Bürger nicht geflüchtet. So sollte ich jetzt meine Heimatstadt verteidigen? Als Bordfunkeranwärter war ich bereits im vergangenen Jahr an die Front zur SS-Division Götz von Berlichingen gekommen - als „Hermann-Göhring-Spende", wie man uns nannte. Jetzt war ich Funker in einem SPW*, dem Regimentsfunkwagen mit etwa fünf Kameraden, von denen das Kommando der Unterscharführer hatte, der mich geweckt hatte. (*Ein SPW ist ein Schützenpanzerkampfwagen, der vorne Räder und hinten Ketten hat. Er ist wie ein Panzerwagen mit Bordwaffen ausgestattet und unten und seitlich voll gepanzert, ist aber oben offen und nur mit einer Plane überdeckt.) Nun mussten wir unsere Motorfahrzeuge entladen, und dann ging es im Mot-Zug (Motorzug) zum Einsatz. Unser SPW fuhr etwa in der Mitte der Einheit. Wir fuhren vom Güterbahnhof durch die Bahnhofstraße, Adolf-Hitler-Platz, Hindenburgstraße, als plötzlich der Motor unseres SPWs stotterte und der Wagen stehen blieb. Zunächst gab es Ärger mit den Nachfolgenden, aber dann zogen alle an uns vorbei, bis ein Untersturmführer (Leutnant) auf dem Krad von der Spitze her zu uns kam. Nach kurzem Anpfiff des Wagenfahrers, ein junger Rottenführer (Gefreiter), wies der Untersturmführer unseren Kommandanten ein. Ich hörte als Ziel-und Einsatzort „Klützow". Natürlich mussten wir dann durch die Hindenburgstraße. Klützow hatte außer der Zuckerfabrik den größten Militärflugplatz Hinterpommerns, für den mein Vater in seinem Tischlereibetrieb ständig gearbeitet hatte. „Sehen sie zu, dass sie einen Autoschlosser finden, der sie wieder in Gang setzt." So der Untersturmführer.
Danach drehte er nach kurzer Einweisung bei und verschwand, um sich wieder an die Spitze der Einheit zu setzen, die schon lange außer Sichtweite war. „Beckmann, wo wohnst du? fragte mein Vorgesetzter. „An der Marienkirche, aber das ist ein Fußweg von etwa 10 Minuten und mein Vater kann sicher auch nicht helfen." „Quatsch, wir brauchen keine Hilfe, der Wagen läuft. Wir wollen jetzt bei deinen Eltern Pause machen. Du wirst uns führen." Ich war zunächst sprachlos! Sollte es jetzt wahr werden, was mein Vater scherzhafterweise gesagt hatte, als ich eingezogen wurde?: „Wenn du erst Soldat bist, kommst du noch mal mit 'nem Panzer in den Urlaub." Jetzt war ich „Kommandant" und kaum hatte ich ausgedacht, da sprang der Motor an, und unser SPW-Fahrer war wieder in seinem Element. Wir wendeten, fuhren durchs Johannistor, Breite Straße, Holzmarktstraße herunter zum Markt, und schon standen wir vor unserem Haus „An der Marienkirche 2". Die ganze Familie war zu Hause, denn sie rüstete sich schon um die Stadt zu verlassen und auf die Flucht zu gehen. Eine unbeschreibliche Freude gab es zwischen uns, besonders auch mit meinen beiden Schwestern. Dann gingen wir alle ins Haus, und während Vater sich mit uns interessiert unterhielt, denn er war Frontsoldat im ersten Weltkrieg, war Mutter in der Küche verschwunden. Vater nahm sich aber ernsthaft unseren Boss vor und machte ihm klar, dass wir uns, wenn wir erwischt werden, für's Kriegsgericht strafbar machten, denn unser Verhalten war unerlaubte Entfernung von der Truppe, auf die die Todesstrafe stehen konnte. Das machte uns schon zu schaffen. Dann, nach kurzer Zeit kam unsere Mutter mit einer großen Pfanne Rühreier von eigenen Hühnern, Brot und Butter und servierte uns ein lang ersehntes Frühstück. Nach dem Essen führte uns Vater in den Keller, und dann mussten wir alle Lebensmittel, Marmelade, Honig, Wein und andere alkoholische Getränke heraufholen, die meine Eltern auf die Flucht nicht mitnehmen konnten. Alles wurde in den SPW geladen, und dann drängte Vater, dass wir weiterfuhren: „Seht zu, dass euch nicht die Kettenhunde* erwischen, sonst seit ihr dran." Ein schneller herzhafter Abschied (vielleicht für immer) und ein großes Dankeschön von den Kammeraden, und dann ging es in Richtung Klützow, durch die Königstraße, am Eisturm vorbei und aus der Stadt hinaus nach Klützow. (*Kettenhunde waren Militärpolizisten, die eine starke Metallkette um den Hals trugen, an der über der Brust eine ovale Metallplatte hing mit der Aufschrift „Militärpolizei". Alle Dienstgrade mussten ihnen Gehorsam leisten.)
Bei der Einheit angekommen, wurden wir schon erwartet. Kurze Meldung unseres Unterscharführers, und es war wieder alles in Butter. Natürlich, unser SPW hatte eine gute und kostbare Ladung, an der manch ein Kamerad seine Freude haben wird. Aber dann kam mein Unterscharführer auf mich zu: „Beckmann, jetzt meldest du dich beim Chef, erzählst ihm. dass du Stargarder bist und bittest um einen Tag Fronturlaub." Auch das noch, aber Befehl ist Befehl. Ich meldete mich bei meinem Kompaniechef und erbat einen Tag Fronturlaub nach Stargard. Doch das war kein Thema. Schon am nächsten Morgen durfte ich nach Hause fahren. Eine Überraschung für meine Eltern, die schon beim Packen waren. Mutter hatte Wert darauf gelegt, den Weihnachtsbaum noch stehen zu lassen: „Ich glaube ganz fest, dass Horst ihn noch zu sehen bekommt." Nun sah ich ihn zum zweiten Mal, aber er ist dann auch nicht mehr geplündert worden. Vater machte mir noch einmal klar, wie unvorsichtig wir waren. „Eure Aktion gestern war lebensgefährlich, so sehr wir uns gefreut haben. Ihr hättet alle vor's Kriegsgericht kommen können." Nun, es war gut gegangen, und heute war ich legal zu Besuch, aber ich nahm auch nichts mehr mit. Am Nachmittag brachte mich Vater über den Markt an die Pyritzer Straße. Der Abschied von Mutter und meinen beiden Schwestern war schon schwer gefallen, aber mit Vater hatte ich immer noch ein Wort und noch ein Wort zu wechseln, obwohl ich den Zug nicht verpassen durfte. „Nun geh mit Gott, mein Junge, aber geh; du verpasst sonst den Zug, und dann kommst du doch noch vor's Kriegsgericht." Mehrmals schaute ich mich um, aber dann war Vater verschwunden. Als alter Frontsoldat kannte er in diesem Fall keine Sentimentalitäten.
(Nach Rückehr aus der Gefangenschaft - ich war ein Jahr vermisst - sagte Vater dann: „Bei der Verabschiedung auf den Marktplatz war ich fest der Meinung, dass wir uns nicht wiedersehen würden, aber mit Mutter habe ich nie darüber gesprochen.")
Nur einige Tage waren wir auf dem Flugplatz in Klützow, haben wieder exerziert und uns für den nächsten Fronteinsatz vorbereitet. Dann fuhren wir im MotMarsch nach Stettin und nahmen Stellung auf der Finkenwalder Höhe. Auch hier verlassen mich meine Erinnerungen. Ich weiß aber, dass wir unsere Regimentsfunkstation in Betrieb genommen haben und das es bereits harte Kämpfe für unsere Panzergrenadiere gab. Eines Tages kam mein Truppenführer, der Unterscharführer in die Station gerast, riss mich von der Sendetaste und gab im Klartext den Funkspruch an die Divisionsfunkstelle durch, dass unser Spieß (Hauptscharführer und Mutter der Kompanie, wie man sagte) gefallen sei. Nach der Durchgabe kam er auf mich zu: „Beckmann, komm mit. Wir müssen zu unserem Hauptscharführer und ihm die Erkennungsmarke und Wertsachen abnehmen." Wir begaben uns - wie man zu sagen pflegt - ins Niemandsland, denn der gefallene Kamerad hatte sich wohl sehr waghalsig vorgewagt. Wir konnten fast nur robben, denn wir hatten von allen Seiten Feindeinsicht, und damit hätte uns das gleiche Schicksal bevorstehen können. Dann waren wir nach langer Zeit, wie ich meine, bei unserem Kameraden, der mit offenen Augen auf dem Rücken lag. Ganz alleine! Wir brachen seine Erkennungsmarke durch und nahmen den unteren Teil mit, sein Soldbuch, Brieftasche, Armbanduhr und andere Wertsachen. Dann verabschiedete sich mein U-Schar-Führer mit kurzen Worten von unserem gefallenen Kameraden, denn wir konnten ihn nicht beisetzen. Danach begaben wir uns wieder, ebenfalls teils robbenderweise, zurück zu unserer Funkstaffel.
Ich weiß nicht mehr, wie es direkt weiterging. Jedenfalls haben wir uns nachdem die Finkenwalder Höhe voll in den Händen der Russen und Polen war, weiter nach Süden abgesetzt und sind dann in den Einsatz bei Schwedt und danach besonders bei Frankfurt/Oder gekommen, wo es sehr harte Kämpfe gab. In einer weiten Kurve wurden wir von einem Granatwerfer mit unserem SPW abgeschossen. Zwei Kameraden wurden leicht verwundet, weil der SPW oben offen ist. Wir konnten sie versorgen. Aber die linke Kette war beschädigt, so dass wir nicht weiterkamen. Unser Kommandeur befahl auszusteigen, den Wagen zurückzulassen und in Fahrtrichtung weiter zu marschieren. Aber der Wagenführer machte nicht mit, verweigerte den Befehl und blieb bei seinem SPW. Als wir bei der Einheit waren, trauten wir unseren Augen kaum. Unser SPW kam hinter uns her. Der Kamerad hat ihn alleine in Bewegung gesetzt. Ein Eisernes Kreuz war ihm wohl sicher.
Weiter absetzen mussten wir uns dann bis Spremberg in der Niederlausitz, wo wir von den Russen noch eingekesselt wurden. Ein gelungener Durchbruch, bei dem ich auch verwundet wurde, kostete noch einmal viel Blut. Es war am 22. April. Als Verwundeter wurde ich von der Einheit zurückgelassen, wie viele andere und kam in russische Gefangenschaft. Das gäbe aber einen neuen Bericht.
Horst Beckmann 2011
Die letzte Predigt von Horst Beckmann in Stargard finden Sie hier.
zurück zum Inhaltsverzeichnis