700 Jahre Ackerbürgertum
Aus Heinz-Jürgen Torff - 2009 "Erinnerungen an Stargard in Pommern"
Die Besiedlung und Inbesitznahme des Stargarder Raumes geschah zunächst durch deutsche Adelige und Bauern. Die in Stargard schon niedergelassenen Johanniter bekamen von den Pommernherzögen auf deren Gesuch bald die Genehmigung, in ihrem Niederlassungsumkreis deutsche Bürger anzusiedeln. Die zweite etwas spätere Besiedlung durch Handwerker und Kaufleute war sicher die Folge des wohl rentablen, zunächst noch abgabenfreien und billigen Landerwerbs.
Die im Text enthaltenen Örtlichkeiten aus dem Mittelalter sind überwiegend in der Zeichnung enthalten.
In der frühen Übersetzung der Gründungsurkunde der Stadt Stargard, wohl über einhundert Jahre später, vom 24. Juni 1243, aus der Konfirmationsurkunde vom 1. März 1637 im städtischen Archiv, sind 150 Hufen (1 Hufe = 10 ha, die slawische Hufe war etwas kleiner) den Bürgern oder Deutschen der Stadt Stargard zum Besitz übergeben worden (zur Besetzung ausgetan). Von diesen 150 Hufen sollten 30 Hufen zur Weide dienen, von den restlichen 120 Hufen mussten jährlich je 3 Loth Silber entrichtet werden. (16 Loth Silber entsprach zu der Zeit der Verleihung dem Wert von 1 Mark Silber). Da Pommernherzog Bogislav 1295 die alte wendische Burg beim Kaholze (früher die Stelle des Stuthofes, später des Kotelmannschen Gartens) auf starkes Drängen der neuen deutschen Bürger abreißen ließ, fiel jetzt auch bei der alten wendischen Ansiedlung die Plankenbefestigung. Nun begannen die Bürger eine stabile Ringmauer um den bewohnten neuen Stadtkern zu ziehen. Die Stadt Stargard bekam von außen das Bild der älteren wehrhaften deutschen Städte mit ihren sicheren Doppeltoren, den Wykhäusern und vielen Türmen nach und nach, so wie es uns bis heute die Vedute der Stadt von Lubin überlieferte. Das Stadthufenfeld außerhalb dieses neuen Stadtkerns teilte sich in das Johannisfeld, das Pyritzsche- und das Werderfeld, so dass jeder Besitzer ab einer halben bis ganzen Hufe (2 - 4 Morgen Land) in jedem Felde seine Stücke haben konnte. Südlich vom Wallfeld am Kleinen Krampehl war das Huckfeld, in drei Felder geteilt. Kleinere Äcker, die außerhalb der Dreifelderwirtschaft genutzt wurden, lagen ganz am Rande der städtischen Hufen an der Gemarkungsgrenze. Die Gemeindeweiden zum gemeinsamen Viehhüten befanden sich vornehmlich nördlich der früheren Kaukenberge (Bergstraße/ Kalkenberg) bis hin zur Ihna (Müllers Wiesen). Ein Teil der Weiden befand sich auch östlich des Ihnastroms, zwischen der Ravensburg, dem Kleinen Krampehl, dem Kaholz und dem Werderfeld.
Schon im frühen Mittelalter bauten viele Stargarder Ackerbürger außerhalb der Stadtmauern nicht nur ihre Scheunen, sondern auch feste Höfe mit Wirtschaftsgebäuden und Gärten an. Die jetzt aus den Stadttoren herausführenden Landstraßen wiesen schon eine durchgehende Pflasterung auf. Wie beim großen Brand aus dem Jahre 1635 beschrieben, wollten die kaiserlichen Truppen, um zu den angreifenden Schweden auf die Stadt freies Schussfeld zu haben, nur die großen Scheunen der Ackerbürger vor Ort abbrennen. Da der Wind sich aber drehte, wurde Stargard bis auf wenige feste Häuser ein Raub der Flammen. Die damalige leichte und auch oft enge Bauweise mit Schilf- oder Holzbedachung war oft ein Raub der Flammen. Ackerbürger, die dieses Drama überlebten, bauten ihre Höfe möglichst außerhalb der Stadtmauern an. Für den Wiederaufbau des neuen Stadtkerns im Innern der Ringmauer brauchten die Stargarder über einhundert Jahre, was auch nur mit großer Hilfe und vielen Talern vom Preußen König Friedrich II. möglich war.
An der späteren Stelle des Peter-Gröning-Gymnasiums stand die größte Scheune des Stargarder Rates, die Ziegelscheune. Vor dem Walltor, im späteren Luisen-Viertel, befand sich Stargards Gartenland. Der Werder und die Wyk wurden schon in früher Zeit durch Ackerbürger so stark besiedelt, dass die Bewohner einen eigenen Consul (Bürgermeister) für ihren Stadtteil einforderten. Ein Ergebnis ihrer Forderung durch den Rat der Stadt war die Einsetzung eines „Werderhauptmanns". Viele Ackerbürger Ansiedlungen außerhalb der Stadtmauer hatten auch dort ihre eigene Kapelle vor Ort. Zwischen Werder und Wyk stand die Gertrudkapelle. Die Heiligegeist-, Erasmus- und Georgen-Kapelle standen im Pyritzschen Feld. Nahe der Kuhbrücke befand sich die Jacobskapelle und neben der Kapelle „Zum Elend" mehrere Hospitäler. Die Stargarder hatten auch noch ihre großen Stadtkirchen von St. Marien, St. Johann und die schöne Augustiner-Klosterkirche in dieser sehr gläubigen Zeit. Der Stargarder Stadtteil zwischen der Kirche von St. Marien und dem späteren südlichen Teil der Große-Mühlen-Straße, der südlichen Stadtmauer und der Tolzstraße umfasste die Hauptmenge der Stargarder Häuser, die unmittelbar mit dieser Kirche in Verbindung oder Abhängigkeit standen, sowie der „Kaland" (1341 - gegründet zur Vereinigung aller Geistlichen von St. Marien). Ihm gegenüber lag an der Stadtmauer der Stadthof, der die Wirtschaftsgebäude zu dem der Stadtkämmerei gehörenden Grundstücke, der Stadtfeldmark sowie die vielen Stallungen der Stadtpferde aufnahm. Der Stadthof reichte zu der Zeit bis zum Ihna-Stadtarm, in dessen Nähe im frühen 16. Jahrhundert das heute von den Polen wieder restaurierte Stadtzeughaus stand.
Stargards Bürger, die Äcker und Grundstücke besaßen, hatten ihre besondere Vereinigung in der Gilde der Bauleute. Diese Gilde organisierte außer den Ackerbürgern auch den reichsten und vornehmsten Teil der Stargarder Bürgerschaft, der ebenfalls im Besitz von Häusern und Grundstücken war. Sie überwachte die Einhaltung der für den gemeinsamen Ackerbau bestehenden Vorschriften, vertrat die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Stargarder Bürgerschaft, beschäftigte Feldwächter und Hirten für das gemeinsame Vieh, das die Ackerbürger in bestimmter Anzahl zur Größe und zum Verhältnis ihres Haus- und Grundbesitzes auch auf die Stadtweiden treiben durften. Pferde, Rindvieh, Schafe und Schweine stellten einen nicht unerheblichen Anteil des Vermögens der Bürgerschaft dar. Es war deshalb auch ein sehr großer Vermögensverlust, als am 25. Juni 1460 die Stettiner mit ihren Verbündeten überfallartig aus dem Schutz des Waldes heraus die Viehhirten überfielen, das Stargarder Vieh von ihrer Weide raubten und damit den fast jahrhunderte langen Streit zwischen Stargard und Stettin vom Zaune brachen und der inneren Sicherheit Pommerns sehr schadeten. Aus Stargarder Sicht vermutete man diese Tat aus Eifersucht der damals ähnlich reichen Stadt Stettin über das Stargarder verbriefte Privileg der zollfreien Verschiffung der Stargarder Handelsware auf der Ihna bis an die Große See (Ostsee) über die Ihna-Mündung. Übel mitgespielt wurde durch diesen Raub den Stargarder Ackerbürgern, denn eine Diebstahl-Versicherung gab es zu der Zeit noch nicht.
Die Bürgerschaft und ihre Ackerbürger mussten zu dieser Zeit stets gut gerüstet sein. Nach der Musterrolle von 1523 hatte die Stadt zur Landesfolge dem Fürsten bei Bedarf 50 Berittene und 200 Mann zu Fuß bestens bewaffnet mit etlichen Rüstwagen zu stellen. Die Führung dieser Truppen hatten Mitglieder des Stargarder Rates, dem über Jahrhunderte viele ritterbürtige Leute angehörten. Das Urteil Kantzows zu diesen Streitkräften sagte ganz klar aus, „..dass diese den Stettinischen und Grypswaldischen (Greifswald) in nichts nachgaben" und „die allergerüstetsten und streitbarsten unter den Pommerschen Stätten seien", denn wer bestes Land und gute Ackerbürger besaß, der hatte auch gute und starke Pferde, die ja auch in großer Anzahl bei dem Ihna Aufwärtsziehen der Stargarder Schiffe und Lastkähne von dem Ihna Mündungshafen bis in die damalige Hafenanlage zu den großen Speichern hinter dem Stargarder Mühlentor von Nöten waren. Der Platz Stargard wurde durch sein Hinterland, den vielen Speichern und den Mühlen zu einem Mittelpunkt des Handels und das ehrwürdige alte Rathaus zum Treffpunkt und Messehaus der Kaufmannschaft.
Die Bodenverhältnisse der Stadthufen lagen zwischen den Roggenfeldern und späterem Kartoffelanbau des Kreises Saatzig und den Weizen- und Zuckerrübenanbaugebieten des Pyritzer Kreises. Stargarder Kaufleute machten die Stadt im Laufe vieler Jahre mehr und mehr zum Handels- und Umschlagplatz der Erzeugnisse ihrer eignen Ackerbürger sowie der zahlreichen Bauern und Gutsbesitzer der angrenzenden Landkreise. Geschäftige Unternehmen zur Steigerung des Umsatzes landwirtschaftlicher Erzeugnisse wuchsen ständig auf vielfältige Art und Weise. Maschinen- und Gerätefabriken sowie Landmaschinenhandlungen konkurrierten miteinander und machten gute Umsätze. Ein- und Verkaufsvereine, gut organisiert, wie auch Spar- und Darlehnskassen unterstützten die landwirtschaftliche Entwicklung in Stadt und Land. Regelmäßige Verkaufs- und Viehmärkte, neben einem modernen Schlachthof und der weit über Stargards Grenzen hinaus bekannten großen Karo'schen Mühle zogen Landwirte und Gutsbesitzer aus dem Stargarder Umland zum Besuch in die Stadt. Stargard präsentierte hierzu auch im kulturellen Bereich ein hohes Angebot wie erstklassige Hotels und gute Lokalitäten, regelmäßige Theaterdarbietungen, musikalische Vielfalt, hoch stehende Schul- und andere Lehranstalten, neben dem sehenswerten historischen Stadtkern auch immer besser werdende Verkehrsverbindungen aus allen Richtungen in die Stadt hinein. Speziell für die Bewohner des Kreises Saatzig hatte deren alte Kreisstadt immer noch eine große Anziehungskraft.
Die jetzt kreisfreie Stadt Stargard in Pommern entwickelte sich von der Struktur her immer mehr zu einer Behörden- und Beamtenstadt mit einer traditionellen, jetzt verstärkten Garnison sowie aufsteigenden Industrieunternehmen. Die am 17. Mai 1939 in Pommern durchgeführte Volks-, Berufs- und Betriebszählung ergab hier einige interessante Vergleiche in Prozenten vom Kreis Saatzig und dem Stadtkreis Stargard, speziell der Berufszugehörigkeiten ihrer Einwohner, die sich in den letzten hundert Jahren immer deutlicher unterschieden. Zum Beispiel die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in der Größenordnung von 5 ha bis 100 ha und mehr führte der Kreis Saatzig mit 2196 gegenüber 96 in Stargard an.
In unserer Stadt gab es 1939 93 Betriebe von 5 ha (20 Morgen) bis 100 ha (400 Morgen), die sich die Ackerbürger, Gärtnereien und Baumschulen teilten, der Kreis Saatzig bestand mit 99 Gutsverwaltungen oder Groß-Bauern gegenüber Stargard mit nur 3 Betrieben dieser Größe. Der Major a. D. G. Giese, Gut Giesenfelde, mit insgesamt 230 ha hatte den wohl größten Besitz, gefolgt von 0. Unger auf dem Jägerhof sowie von G. Kiesow, Luisenstraße 7 und P. Hell, Lehmannstraße mit einem schönen villenähnlichen Ackerbürgerhaus.
Wer von den Stargarder Ackerbürgern ähnliche Standortverhältnisse wie noch im alten Stargard oder auf dem Lande erwartet hatte, der irrte, denn den vier Ackerbürgern als unmittelbare Nachbarn des Chronisten im Jobst-Viertel in der Bergstraße Nr. 55, E. Müller, Nr. 57, P. Kuphal, Nr. 59, W. Strehlow und K. Zado, Nr. 61, waren in der stark bewohnten mit unterschiedlich großen Mietshäusern bebauten Straße nur durch deren meist doppelseitige große Hofeinfahrt an der Berufsausübung zu erkennen. Der Zweite Weltkrieg machte auch das Leben einiger Ackerbürger zum Problemfall, immer mehr Gestellungsbefehle machten die Bewirtschaftung schwieriger. Kriegsgefangene und Ostarbeiter mussten oft den Landwirt unterstützen oder sogar ersetzen. Pferde wurden requiriert, für zwei Warmblüter gab es ein Kaltblut, die sich aber 1945 bei der Flucht über die Oder noch vor manchem Treckwagen bewährten. Die Ackerbürger waren es auch, die aufgrund ihrer noch eigenen Mobilität nach Kriegsende wieder zu Hause ihr Vieh und ihr Land versorgen wollten. Aber ihre Heimkehr wurde bei vielen zu einem bösen Traum, die letzte Habe und auch, wie bei Major a. D. Giese, das letzte Stiefelpaar musste für einen heilen Rückweg über die Oder geopfert werden.
Was ist nun aus den vielen schönen Stargarder Bauernhöfen und den Ländereien geworden ? Auf dem Platz der Bauernvilla Hell in der Lehmannstraße steht jetzt ein Hochhaus, hinter den vier Bauernhöfen in der Bergstraße führt eine neue Straße von der unteren Schröderstraße zur Lehmannstraße durch. Die Höfe Müller und Kuphal mussten weichen und wurden abgerissen, Strehlow und Zado werden bewohnt. Stargards letzter amtierender Bürgermeister, Dr. Stahlmann, hatte am 18. Februar 1944 an den Regierungspräsidenten in Stettin einen Situationsbericht über die Stadt zu erstellen über eine fortgeschriebene Einwohnerzahl von 44 603 Bürgern. Heute hat unsere Heimatstadt sicher die Zahl von 80.000 Bewohnern längst erreicht, ohne deren Kenntnis von über 700 Jahre einstmals Stargarder Ackerbürgertums. Die Ackerbürger waren die ersten und die letzten bodenständigen Einwohner unserer alten Stadt Stargard in Pommern.
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