Die Bergstraße im Jobstviertel
Aus "Erinnerungen an Stargard in Pommern" von Heinz-Jürgen Torff - 2009, Eigenverlag
Mit dem Fortschreiten des städtischen Aufschwungs durch die Industrialisierung vornehmlich außerhalb der Stargarder Kernstadt, also auch außerhalb der historischen Stadtmauer, entstand auf dem Gelände der Stargarder Gemarkung im Nordwesten vom Marktplatz ausgehend eine Erschließung des Garten- und Ackerlandes mit der 1856 begonnenen Bebauung der Jobstvorstadt. Von über 200 Wegen, Straßen, Plätzen, Landstraßen und Chausseen der Stadt war wohl die Bergstraße von ihrer Anlage und Bebauungsart her eine abwechslungsreichsten und interessantesten Straßen der Stadt; insbesondere aber des Jobst-Viertels, das seinen Namen nach der alten Jobst- oder Jodokuskapelle erhielt, die früher auf dem Gelände des späteren Zentralgefängnisses stand und 1867 aus baulichen Gründen abgerissen wurde.
Wie der Straßenname schon aussagt, begann man mit der Besiedlung der Bergstraße auf der wohl höchsten Erhebung der Stadt, dem Kalkenberg, früher Kaukenberg (Kauke = Krähe oder Dohle). Dieser Bergrücken reichte bis an das große im Mittelalter aufgeschüttete Johannis-Rondeel heran. Hier begann die Bergstraße mit ihrer Hausnummer 1. Der Eigentümer war nach dem Stargarder Adressbuch die Synagogen-Gemeinde mit ihrem jüdischen Friedhof. Von diesem Standort aus hatte man einen ungehinderten Blick über den Gerichtsplatz hinweg durch die Bahnhofsstraße bis zur Eisenbahnunterführung und zur anderen Seite an der Karow-Mühle vorbei bis ins Luisen-Viertel. Vor 1856 führte etwa von dieser Anhöhe ein Fahrweg am Fuße des Nachtigallensteigs bis zum Mühlentor entlang. Bei Ankauf und Planung des späteren Geländes zum Bau der Villa Karow mit dem uns bekannten Park musste sich der Mühlenbesitzer, so sagt es die Legende, verpflichten, eine Straße als Ersatz außerhalb seines neuen Besitzes auf eigene Kosten anlegen, die spätere Kalkenberg-Straße.
In der Bergstraße am Eingang zum Kalkenberg standen sich zwei sehenswerte Villen gegenüber. Das Haus Nummer 3 gehörte dem Stargarder Stadtbaurat Sonnabend. Hier wohnten die Leiter des gegenüberliegenden Landgerichts auch zur Miete. Das Behörden-Haus moderne Architektur von 1930 In der Nummer 5 auf der anderen Seite war der Ersteigentümer, ein Herr von Lühmann, später nach ihm der Besitzer Albert Ruddigkeit, ein Getreidekaufmann. Im Obergeschoss hatte Frau von Klitzing ihre bei den Fahrschülern beliebte Schüler-Pension. Bergab gehend zur linken Hand begann die lang gestreckte hohe Gefängnismauer, hinter der sich das Gerichtsgebäude mit anschließendem Gefängnistrakt unseren Augen verbarg. Die Mauer fand ihren Abschluss an der kurzen Gerichtsstraße, die von der Jobststraße steil zur Bergstraße führte. Gegenüber der hohen Gefängnismauer bot der Stargarder Konsum und Sparverein wie der Beamten-Wohnungsverein vielen uns bekannten Lehrkräften gute Wohnungen an. Die Geschwister Liermann, zwei engagierte und sehr beliebte Lehrerinnen, stammten aus diesem Haus. Über die Bergstraße hinaus begann die Karowstraße. Hier wohnte, wer Rang und Namen hatte in unserer Stadt, vom Oberbürgermeister Dr. Völker, Bürgermeister Dr. Stahlmann bis zum Stadtbaumeister Krummbügel und dessen Schwiegersohn, Kantor und beliebter Dirigent Stargarder Chöre, Studienrat Biederstaedt. Aus diesem Hause stammt auch der nach dem zweiten Weltkrieg bekannte Schauspieler Klaus Biederstaedt. Wollten die Bewohner der Karowstraße zur Bergstraße oder darüber hinaus, so mussten diese durch das „Behördenhaus" gehen, ein damals im modernsten und mutigen Baustiel entstandenes Straßen überbrückendes öffentliches Gebäude. Wir Bergstraßenbewohner waren mächtig stolz auf diese moderne Architektur, die von Bauleuten wie dem Architekten Nax, dem Stadt-Baumeister Krummbügel und seinem Baufachmann Ganske errichtet wurde und dessen Eigentümer der preußische Staat war. Sechs Behörden einschließlich der Kreiskasse waren hier zu erreichen. Unmittelbar dahinter, in Haus Nr. 21, war die Fleischerei des Florian Grützmacher, der die sehr schmackhafte Grützwurst herstellte, die in der damaligen Zeit oft zu unserem wöchentlichen Mittagstisch gehörte. Zur Versorgung der Bewohner der Bergstraße war diese lange Wohnstraße mit vielen guten Bäckereien, Fleischergeschäften, Kolonialwarenhändlern, Frisören, Bier- und Vereinslokalen, Milchgeschäften und einigen gut situierten Ackerbürgern bestückt. Schräg gegenüber der Nr. 21 wohnte die Familie Rhode, die als Pächter die Badeanstalt (Inh. Steingräber) mit Bootsverleih an der Ihna am Blücherplatz führte. Daneben in Nr. 14 war der Hauseigentümer Georg Geletneky, Bierverleger und Mineralwasserfabrikant, dessen Doppelhaus Durchgang zur parallel verlaufenden Jobststraße uns Kindern oft als beliebter Durchlauf diente, an den verdutzten Augen der Firmenangestellten vorbei laufend.
Bergstraße Nr.19/ 21 war das moderne Stadtkrankenhaus, auch für die Kreise Saatzig und Pyritz konzipiert, auf großzügigem Areal gebaut. An der kopfsteingepflasterten Toreinfahrt stand zur linken Hand die Erker geschmückte Villa des Chefarztes Dr. Naumann, der auch Vater zweier hübscher blonder Zwillingstöchter war. In dem nun folgenden etwas zurückgesetzten Haus Nr. 37 wechselte öfter der Eigentümer mit der Art der Gebäudeverwendung ab. Der „Pommersche Brüderbund", ein Kinobetreiber sowie eine religiöse Gemeinschaft waren hier die abwechselnden Gebäudebenutzer. Gegenüber leicht ansteigend mündete von der Erlöserkirche her die kleine Mittelstraße ein. Dann kreuzte von beiden Seiten die Schröderstraße. Von diesem Punkt der Bergstraße an konnte man sicher von einem oberen und einem unteren Bergstraßenteil sprechen. Die dort stattfindende allgemeine Geschäftigkeit der Bewohner und vieler Begegnungen von Jung und Alt hatte hier eine gewachsene Drehscheibe der Bewohner. Das große Eckgebäude, noch in die Schröderstraße mit einer Einfahrt und einem Hauseingang hineinragend, gehörte dem Bäckermeister Otto Maas, ein stets freundlicher und tüchtiger Mann, der noch mit eigenem pferdebespannten Bäckerwagen seine auch entfernt in den Siedlungen wohnende Kundschaft mit Backwaren versorgte. Seinem Gebäude gegenüber lag unser „Großer Spielplatz", ein zur Hälfte mit Laubbäumen angelegter städtischer Freizeitplatz gleich neben der Schröderschule. Hier war tagsüber auch der Treffpunkt der kleinen und größeren Schuljugend, der „Antrete-Platz" des Jungvolks und aller begeisterten jugendlichen Ballspieler des Jobst-Viertels. Inmitten der hier fast doppelt breiten Bergstraße befand sich eine Straßeninsel mit großen Lindenbäumen und einer Litfasssäule, die mit Durchhalteparolen und Artikelwerbungen beklebt wurde. Hier spielten meist kleinere Kinder. Wenn der Geruch von angesengtem Pferdehuf über dem Spielplatz schwebte, dann waren wir auch schon gleich bei dem offenen Tor der Hufschmiede des Beschlagmeisters Fritz Kornstädt zu finden. Er verstand sein Handwerk und wir beobachteten aufmerksam und genau die ganze Prozedur des Hufebeschlagens. K. war auch Innungsmeister des Stargarder Schmiedehandwerks, seine Kundschaft hatte keine langen Wege zu ihm, denn Ackerbürger und Fuhrleute gab es noch genug im Jobst-Viertel.
Von diesem Teil der Bergstraße bis zum Abzweig der Lehmannstraße, die bis zum Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) führte, wohnten in den großen Mietshäuser viele Kinder und Jugendliche. Sie spielten oft und vornehmlich in den frühen Abendstunden mitten auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße in Gruppen ein Spiel, das sich Treibball nannte. Hier ging es mit einem faustgroßen weit zu werfenden Gummiball um Platzgewinn. Gewinner war meist die Gruppe, die dann auch Tagessieger wurde, die gerade die beste Werferin oder den besten Werfer in ihren Reihen hatte und die Gegenpartei bis zu deren Startplatz wieder zurückdrängte. Das fröhliche Treiben wurde nur manchmal unterbrochen von den Versorgungsfahrzeugen oder den Pferdewagen der hier ansässigen Stargarder Ackerbürger.
Aus dem Hause Bergstraße Nr. 51 ging im Jahre 1912 Paul Steingräber, der zweite Sohn von sechs weiteren Geschwistern der Hauseigentümer August und Auguste Steingräber, als Missionar nach Sumatra (früher: Niederländisch Indien). Er eiferte seinem Vorbild, dem ebenfalls nach Asien ausgewanderten Pyritzer Missionar Gützlaff, nach. Einige Meter weiter in der unteren Bergstraße befand sich das Vereinslokal vom Fußball-Club SC Viktoria 1911, Stargard. Der Club leistete eine gute Jugendarbeit und spielte oft um die Gaumeisterschaft mit, es war „unsere Viktoria". Deren Spiel- und Trainingsplatz war der Jahnsportplatz an der unteren Bergstraße beim Birkenweg, früher die Sportstätte aller Stargarder Schulen und noch davor der kleine Exerzierplatz der Stargarder Garnison. Im unteren Teil der Straße befand sich außer kleinen Handwerksbetrieben eine sehr starke Wohnhausbebauung. Hier waren die Mieter zum überwiegenden Teil Post- und Reichsbahnbedienstete. Hinter dem nun unter die Straße durchführenden Igelphulgraben zweigte nach Westen der Bummelweg ab und in südlicher Richtung der Weg über die flachen Gleise der Saatziger Kleinbahn hinweg zum Jahnsportplatz und weiter zum Birkenweg. Dort hatte der Oberst a. D. Georg von Wedell sein Anwesen und darauf einen Teich, der uns Jungen im zugefrorenen Stadium zum Eishockeyspielen einlud. Zum winterlichen Schlittschuhlaufen waren aber die von der Ihna Jahr für Jahr überfluteten „Müllers Wiesen" von Anfängern und fortgeschrittenen Schlittschuhläufern über die ganze Winterzeit ein tolles und kostenloses Vergnügen.
Aber zurück zur Bergstraße, deren Ende das Grundstück Nr. 124 von Rudolf Brunke, seines Zeichens Büchsenmacher, war. Bei dem weiteren Übergang in dem nun folgenden Torfmoor-Weg finden wir noch das E-Schaltwerk der Überlandzentrale und die Werkstadt der Saatziger Kleinbahn AG. Dem Erzählen nach war hier auch früher schon ein russisches Kriegsgefangenenlager, einige russische Kriegsgräber zeugen heute noch von den im Lager verstorbenen Gefangenen. Da die Bewohner der Bergstraße in den Jahren vor 1945 viele ihrer Wege zu Fuß zurücklegten, ob in die Kernstadt zum wöchentlichen Einkauf oder zu den sonntäglichen Spaziergängen, war der Bekanntheitsgrad damals untereinander wohl dem heutigen Nebeneinander um vieles überlegen und dies bleibt wohl auch noch für die Erlebnisgeneration immer eine gute gemeinsame Erinnerung, wenn auch viele Nachbarn und Bekannte aus der Bergstraße und dem Jobst-Viertel sich leider nach der Vertreibung aus ihrer schönen Heimatstadt Stargard und der Bergstraße nie mehr wieder fanden. Zum Schluss sei noch erwähnt, dass wir auch in der Bergstraße gewisse Personen, die wir Jungen „Originale" nannten, sehr gut kannten, die außergewöhnliche Begabungen sowie Eigenarten hatten und auch mit Fertigkeiten aufweisen konnten. Diese in Gedanken wieder aufleben zu lassen rundet die schöne Erinnerung an unsere Stargarder Bergstraße ab.
Heute führt unsere ehemalige Bergstraße den Namen „ul. Polskiego" (Straße der polnischen Soldaten). Unsere alte Bergstraße ist durch Kriegseinwirkungen, Abriss von alter Bausubstanz, Neubebauung freier oder freigewordener Flächen, neue Verkehrsführung zur Einbahnstraße, eine schon wieder brüchig gewordene Teerdecke über das schöne Kopfsteinpflaster, unregelmäßige Neuanpflanzungen von zerstörten alten Lindenbäumen und triste alte Hausfassaden auf den ersten Blick kaum wieder zu erkennen. Die neue Eigentumssituation und damit auch sicher der Grund des o. g. Zustandes hat sich bei den Mietshäuser verändert. Hier werden nur die einzelnen Wohnungen vermietet oder verkauft, die Mietshäuser aber werden von der neuen Stadtverwaltung betreut. Priorität hat der Bau neuer Hochhäuser.
Das Haus Nr. 5, die Villa Ruddigkeit, hat noch in den letzten Kriegstagen einen Volltreffer bekommen. Von hier aus beginnt jetzt den Kalkenberg hinunter eine Hochhausreihe in hellen Farben, die weithin sichtbar ist. Das Krankenhaus hat sich baulich nicht weiter verändert. In den 90iger Jahren konnten wir hier vom Heimatkreis bei Stargard-Besuchen mit apothekenpflichtigen Medikamenten unterstützend helfen.
Die Ecke Bergstraße/Schröderstraße hat sich sehr verändert. Das große Eckhaus der Bäckerei Maaß, durch eine Luftmine vollkommen zerstört, wurde mit einem freundlichen Neubau wieder hergestellt. Der "Große Spielplatz" ist Vergangenheit, der Platz wurde komplett mit modernen Wohnhäusern zugebaut. Wo werden jetzt die Kinder spielen, vielleicht auf dem Gelände der benachbarten ehemaligen Jobstschule ? Die Lehmannstraße wurde weitergeführt in Richtung Pestalozzi-/Schröderstraße. Dieser neuen Straßenführung zum Opfer fielen die Gebäude und Höfe der Ackerbürger Müller und Kuphal sowie das frühere Grundstück der Familie Torff hinter der Bergstraße 51. Stargard-Szczinski hat jetzt fast doppelt so viele Einwohner wie das Stargard in Pommern vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und die etwa achtzigtausend neuen Einwohner werden sicher bei diesem Stadtboom einen weiteren Zulauf haben. Unser alter lieber Jahnsportplatz ist zu einem modernen Sportplatz ausgebaut worden und am Ende der Bergstraße, wo früher vor den Kleinbahngleisen die ganze Aufmerksamkeit der Spaziergänger der ankommenden beliebten Kleinbahn mit schnaufender Lokomotive und Läutewerk galt, wartet der Besucher heute vergebens, denn auch sie ist ähnlich wie die Bergstraßenbewohner ein Opfer der Nachkriegszeit geworden.
zurück zum Inhaltsverzeichnis