Die Zwillinge Ilse und Ruth
Der Zwilling Ilse erzählt unsere Fluchterlebnisse.
An einem frostigen Schneemorgen im Februar 1945 mussten wir fliehen, die Front war nur noch 2 km von unserer Stadt entfernt. Wir, meine Mutter, unsere große Schwester Irma und Ruth und ich, die Zwillinge. Unsere Schwester Irma war schon ein Fräulein. Wir Zwillinge gingen in die zweite Klasse.
Die Straßen waren voller Menschen, alle wollten weg! Wir schlossen uns einem langen Treck an. Voran die Fuhrwerke und hintenan wir mit unserem Handwagen voller Notwendigkeiten.
Nachts, als wir in einem Kuhstall schliefen, da war es mollig warm im Stroh, aber da hatte uns bereits die Front überrollt, ohne dass wir das bemerkt hatten.
Wir sahen an den Straßenkreuzungen deutsche Soldaten ohne Stiefel in den Bäumen aufgehängt. Das waren Fahnenflüchtige und in den Straßengräben lagen viele verhungerte Pferde aus den Ostpreußentrecks und viel fortgeworfener Ballast war dort zu finden.
Wieder mal gab es im Treck einen Stau, doch alle wollten noch über die Oderbrükke. Meine Mutter und unsere Schwester Irma wurden um Hilfe gerufen. Ein Fuhrwerk stak im Schnee fest! Ruth und ich sollten unseren Handwagen bewachen. Plötzlich war ein unheimlicher Krach und die Luft war voller Steinbrocken und viel Staub. Die Leute um uns herum bekamen Panik und liefen schutzsuchend herum. Ruth und ich aber standen brav bei unserem Handwagen. Es hieß nun: Unsere Oderbrücke bei Stettin ist gesprengt!
Gekleidet waren wir Zwillinge stets gleich und sahen uns auch sehr ähnlich. Wir hatten unsere Schulranzen auf und unsere Weihnachtsgeschenke, die Schildkrötpuppen, mit einer Schnur um den Körper gebunden. Die Ingrids, die Puppen waren auch gleich angezogen wie wir, sie hatten Teufelsmützen auf, genau wie wir.
Da kamen Russen im Panjewagen angesprescht. Alles musste Platz machen. Russen waren für uns neu. Sie wirkten furchterregend. Auf dem Bock saßen ein Mann und eine dicke Frau, beide in Uniform. Die Frau kreischte auf und gestikulierte und zeigte auf uns Zwillinge. Was will die von uns? Der Panjewagen stoppte, der russische Soldat sprang ab und lief auf uns zu. Er zog das aufgepflanzte Bajonett von seinem Gewehr und fuchtelte vor uns siebenjährigen Mädchen herum. Ganz nah! Ruth und ich erstarrten vor Angst. Fassungslos und sicher wie versteinert schauten wir ihn an. Er kam mit einem Sprung zu uns und schnitt mit dem Bajonett die Puppenschnüre von unseren Bäuchen. Die Ingridsfielen in den dreckigen Schnee, er grapschte sie und überreichte sie der Frau. Wir Zwillinge standen stumm. Das konnten wir nicht begreifen. Erst Minuten später fingen wir an zu weinen, zu wimmern: Unsere Ingrids Weg waren sie. Geraubt von Russen! Mutter und Irma nahmen uns immer wieder in den Arm und trösteten uns. Ob sie ein Taschentuch hatten, unsere Tränen fortzuwischen?
Haus der Familie Krause
Viel später; Der Frühling war da und wir wurden auf einen Viehtransportzug verfrachtet. Die Wagen waren alle offen. Der ganze lange Zug war voller Flüchtlinge. In der Nähe von Küsserow blieb der Zug stehen. Mitten in der Landschaft. Wie lange stand er dort? Ich glaube tagelang. Wir hatten Angst um unsere Mutter, sie war ständig unterwegs Essen und Trinken für uns aufzutreiben. Aber wann fährt der Zug weiter? Niemand wusste es. Zur Notdurft durften alle den Zug verlassen, aber nur nach rechts. Links hatten sie die Toten aus den Zügen gelagert.
Der Bahndamm war links und rechts von riesigen, abgeernteten Kornfeldern umgeben. Ich war rechts ausgestiegen und tiefer in die Stoppeln gelaufen - und was stand da? Ich wagte es nicht zu glauben. Jemand hatte, wahrscheinlich, noch als das Korn wogte, eine Bauerntruhe dort verstecken wollen. Der Deckel war nur aufgelegt, ich öffnete ihn voller Spannung und die Truhe war gefüllt mit Porzellanfiguren! Ich hob etliche heraus und streichelte ihre kühlen, glatten, farbigen Porzellankörper. Da war eine Tänzerin, sie hatte die Arme anmutig gen Himmel gehoben, sie hatte ihr linkes Bein ausgestreckt - und da - pfiff die Lokomotive unserer Bahn jäh und schrill -und ich war so weit weg vom Bahndamm und ich hörte Mutter gellend schreien: ILSE! Und immer wieder: ILSE! ILSE! Ich ließ die Tänzerin fallen und rannte voller Panik zum Zug. Der Zug rollte und rollte und beschleunigte - zu spät? Aber da stand auf dem letzten Wagen, auf dem Puffer, ein russischer Soldat, der griff nach mir mit seiner freien Hand und zog mich an meinem blauen Mantel hoch und schleuderte mich mit Schwung zu den Flüchtlingen hoch. Die Menschen stöhnten auf! Zu viele Menschen fehlten noch - aber: Das Kind wenigstens ist da! (Ja, ich hatte einen Schutzengel, jedenfalls dachte ich das später!)
Wir zogen kreuz und quer durch Mecklenburg, Brandenburg und Vorpommern. Dann landeten wir wieder in Hinterpommern, in Polen. Unsere Mutter und Irma, sollten als die mitschuldigen deutschen Verursacher das geschundene Land wieder aufbauen! Mutter musste Schwerstarbeit tun, u.a. Ställe ausmisten. Irma, die bereits eine Lehre hinter sich hatte, Steno und Schreibmaschine beherrschte. musste mit einem Stier die Äcker pflügen. Der Stier, nicht an Irma gewöhnt, machte ihr das Leben sehr schwer. Dreckig und zerschunden und kaputt kamen die beiden abends in ihre primitive Unterkunft zurück.
Ruth und ich, unbeaufsichtigt von Mutter und Irma, streunten herum. Wir rissen unreife Kartoffeln aus, rieben sie und hofften, dass die Sonne uns auf den sommerlich glutheißen Steinen "Kartoffelpuffer" braten würde.
Die Russen schossen die Störche ab und aßen sie. Nein, Störche wollten wir nie essen - und doch -. Der Hunger war bei uns allen groß! Mutter zog jeden Abend in der Dämmerung los uns etwas zum Essen zu beschaffen. Eines Tages kam sie nicht zurück. Wir warteten und warteten. Dann liefen Ruth und ich um sie zu suchen. Voller Unruhe liefen wir aus dem Dorf, durch die Felder hin zur Mühle. Da sahen wir sie an der Kornmühle stehen, sie hatte die hochgehobene, graue Schürze voller Getreidekörner. Der Wächter, ein bewaffneter Pole, hatte sie erwischt und brüllte auf sie ein. Wir verstanden nichts. Aber sein zorniges Gesicht, sein Gebrülle — die alte Angst kam wieder hoch: Mutti, Mutti! Mutter, die in Posen aufgewachsen war, konnte polnisch. Sie hörte uns nicht. Der Mann befahl ihr sich an die Mühlenwand zu stellen und er zielte auf sie. Es ist doch nur für meine Kinder flehte sie den Polen an. Wir aber wussten schon, dass auf Diebstahl Todesstrafe stand. Und wir begriffen intuitiv den Ernst der Lage, wir rannten zu unserer Mutter und schmiegten uns an sie. Da stand nun eine verhärmte, vom Krieg geschundene Frau und zwei kleine Mädchen, die sich ähnelten wie ein Ei dem anderen und sie klammerten sich, mit wahrscheinlich, angstverzerrten Gesichtern an ihre Mutter. Der Pole senkte das Gewehr, drehte sich um und ging fort. Das hier aufgeschriebene ist auch ein Gedenken an unsere heldenhafte Mutter.
Erst am 15.6.19 ? hatten wir mit meinem Vater, der Soldat war - über das ROTE KREUZ die Familienzusammenführung. So lange dauerte unsere Flucht. Nirgends konnten wir bleiben. In Gütersloh / Westfalen fingen wir nach Jahren ein neues Leben an.
Die Zwillinge Ilse und Ruth Krause, geb. am 15.6.1936. Lönsweg 14 Stargard i.P.
Ilse Lippold Ruth Wellmann
Rosentwiete 22 Ahornallee 77
25492 Heist 33330 Gütersloh
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