Meine Erinnerungen an unsere Flucht 1945 vor den Russen
Eckhard Kuhnwald
Sperlingstr. 13
17034 Neubrandenburg
Nach über 60 Jahren schreibe ich meine Erinnerungen auf, die ich, Eckard Kuhnwald als 10jähriger auf der Flucht von Stargard erlebt habe. Die Zeit um das Jahr 44-45 ist mir in meinem Gedächtnis besonders haften geblieben. Im Herbst 44 kamen schon viele Flüchtlinge aus dem Osten. Sie wurden in Schulen zeitweilig untergebracht, bevor sie weiterzogen. Dadurch hatten wir oft Unterrichtsausfall. Ab Januar 45 hatten wir keinen Unterricht mehr. Der Flüchtlingsstrom nahm immer mehr zu. Im Februar, so um den 16. herum, treckte unsere Familie auch los. Das war meine Mutter und fünf Kinder, 16, 14, 8, 3 und ich der mittelste 9,5 Jahre. Unser Vater war natürlich Soldat. Bei uns im Haus, Schröderstraße Nr. 14, wohnte auch ein Herr Heinrich Krautzig, 80 Jahre alt, Kleinbahnlokführer a.D.. Er hatte meine Mutter beraten und er ist auch mit uns gekommen.
Anstatt nach dem Westen, sind wir mit der Kleinbahn nach Norden zur Ostsee gefahren. In einem Ort, Ho-hendrosedow, war die Reise erst einmal zu ende. Wie lange wir an diesem Ort waren weiß ich nicht mehr. Die Bauern aus dem Ort hatten die Wagen schon gepackt und fuhren bald los in Richtung Westen. In Erinnerung habe ich, dass wir wieder mit der Kleinbahn in Richtung Stargard fuhren. Bei dem Dorf Dorow in der Nähe von der Stadt Regenwalde ging es nicht mehr weiter. In diesem Dorf sind wir bei einer Bäuerin untergekommen. Diese Frau hatte ihre Flucht abgebrochen weil eines ihrer Pferde lahmte. Es waren nur zwei Familien und ein Schäfer in diesem Dorf. Das Vieh des Ortes hatten die Besitzer vor der Flucht alles aus den Ställen raus gelassen. Nur die Schafherde des Gutes war noch im Stall. Später hat der Schäfer die Schafe auch rausgelassen, weil er die Arbeit nicht mehr schaffen konnte. Der Mann hatte nur einen Arm.
Und eines Tages waren die Russen da. Zuerst preschte eine berittene Patrouille ohne anzuhalten durch den Ort. Einige Zeit später kamen bespannte Truppen nach. Zuerst durchsuchten sie sämtliche Häuser nach deutschen Soldaten ab. Zu uns kamen sie auch. Wir hielten uns alle in der großen Küche auf. Das erste was die Soldaten sagten: „Urie jiest?". Meine Mutter und die anderen Erwachsenen mussten ihren Schmuck und ihre Uhren abgeben. Es kamen danach noch viele Soldaten durch, die auch dasselbe wollten. Manche die von den Sachen nichts mehr abbekamen wurden sehr grob. Der alte Herr Krautzig bekam das hautnah zu spüren, er bekam von einem Soldaten mit der flachen Hand ein paar kräftige Ohrfeigen, weil er keine Uhr mehr hatte.
Von meinem Bruder Heinz, 14 Jahre, muss ich was erzählen. Im Herbst 44 wurden für den Volkssturm Sachen gesammelt. Bei dieser Aktion war mein Bruder irgendwie dran beteiligt. Er hatte sich eine braune SA-Uniform, einen sogenannten „Affen" und einen Trommelrevolwer organisiert. Unsere Mutter hatte ihn immer wieder aufgefordert das Zeug wegzuschaffen. Die Uniform und den Affen haben wir in der Mauer des Gutes versteckt. Den Revolwer hat er behalten. Das wusste ich und meine Mutter nicht. Tags davor hatte er einen Schuss in eine Eiche abgefeuert. Die Nazis hatten ganze Arbeit geleistet, er war schon ein kleiner Nazi! Die Russen waren so etwa zwei Tage da. Alle Leute, die im Haus waren hielten sich in der großen Wohnküche auf. Es war schummrig, so gegen 18 Uhr, Strom gab es ja nicht. Einige russische Offiziere waren auch im Raum. Auf einmal sprang einer der Russen hoch und ging zu meinem Bruder, band ihm die Skihose auf und holte den Revolver aus der Hose hervor. Da ging auf einmal ein Gefluche auf russisch los, wie Wehrwolf und noch mehr, was wir ja nicht verstehen konnten. Meine Mutter und die anderen Erwachsenen heulten, denn sie wussten was passieren wird. Da ging mit einmal draussen eine Schiesserei los, alle Russen stürmten mit gezogenen Waffen nach draussen und kamen nicht wieder. Das war die Rettung meines Bruders.
Danach kamen andere Einheiten, die wahrscheinlich nichts von dem Vorfall wussten. Zu uns kamen im Laufe der Zeit versprengte Nachrichtenhelferinnen, die sich nicht mehr nach dem Westen absetzen konnten. Sie wurden wie alle anwesenden Frauen von den Soldaten stark drangsaliert. Damals als Kind konnte ich das nicht verstehen. Als Erwachsener weiß ich heute, dass es um Vergewaltigung ging. Verschiedene Frauen wollten sich aufhängen wenn sie aus der Stube, wo sie von den Russen vergewaltigt wurden, kamen. Hat aber keine gemacht. Nach ein paar Wochen lies die Zudringlichkeit nach. Zu essen hatten wir immer genug. Die russischen Soldaten schlachteten immer wieder ein Schwein oder ein Rind. Davon nahmen sie nur das Beste, alles andere konnten wir behalten. Eier haben mein Bruder und ich jeden Tag körbeweise aus dem Dorf eingesammelt. Abnehmer waren die Soldaten die durchzogen und nach Eier fragten mit den Worten; „jeiki jist". Die hatten immer Bedarf.
So Mitte März tauchte eine junge Frau bei uns auf. Sie hieß Erika Dittmann, war 24 Jahre und stammte aus dem Dorf Piepenhagen bei Labes. Dort besaß sie eine große Bauernwirtschaft. Sie hatte meine Mutter überredet zu ihr mitzukommen. So zogen wir mit unseren paar Habseligkeiten eines Sonntags mit einem Handwagen zu Frau Dittmann. Dort haben wir bis etwa Mitte Mai gewohnt. Den 9. Mai, das Kriegsende erlebten wir dort. Dieser Tag ist mir besonders in meinem Gedächtnis haften geblieben. Neben dem Dorf auf freiem Feld hatten die Russen einen Flugplatz eingerichtet. Dadurch war viel Militär im Ort. Als die Nachricht vom Kriegsende bekannt wurde, schoss jeder der eine Waffe hatte vor Freude in die Luft. Zu den Deutschen sagten sie: „Weuina kaput," mit einem freudigen Gesicht. So lebte die deutsche Bevölkerung mit den Soldaten einigermaßen zusammen. Übergriffe kamen jetzt seltener vor.
Von Piepenhagen zogen wir zum Nachbarort Dorf Neukirchen. Warum? Der Herr Krautzig konnte viele handwerkliche Arbeiten, das müssen die Russen mitbekommen haben. Um in Neukirchen die dortige Brennerei wieder in Gang zu setzen, wurde er dort hingebracht. Meine Mutter konnte den alten Mann ja nicht alleine lassen und zog mit meinen anderen Geschwistern mit. Ich blieb aber in Piepenhagen, denn die Frau Dittmann hatte keine Kinder und mochte mich wahrscheinlich. Es muss so Ende Juni Anfang Juli gewesen sein da holte mich meine Mutter von dort wieder ab. Durch einen Russen, der etwas deutsch sprach, hatte Herr Krautzig erfahren, das alle Deutschen hinter die Oder müssen. So konnten sie noch einiges vorbereiten, wie Brot backen, einen geeigneten Wagen finden usw. An einem Vormittag kamen polnische Soldaten, gingen von Haus zu Haus und sagten: „Sofort raus." Da wir schon Bescheid wussten, ging alles ganz schnell. Der Wagen, den mein Bruder organisiert hatte, war ein kleiner Ackerwagen für ein Pferd. Die Sachen, die wir noch hatten und vorhandener Proviant wurden verstaut und los ging es. Obenauf kam mein Bruder 3 Jahre und meine Schwester 8 Jahre. Der Wagen wurde natürlich per Muskelkraft gezogen. Ein Pferd hatten wir nicht. Über Labes ging die Reise in Richtung Stargard und weiter zur Oder. In Madüsee, in einer Villa haben wir einmal übernachtet. Die Oder haben wir auf einer Pontonbrücke überquert. Danach war ein steiler Hang zu überwinden. Den hätten wir alleine gar nicht hoch geschafft. So halfen sich die Leute gegenseitig hoch.
Die erste Stadt, die an der Strecke lag, war Pasewalk. Dort konnten wir zum ersten mal Brot kaufen. Weiter ging es bis Ferdinandshof. Dort ging unser Fußmarsch endlich zu ende. Wir verluden unsere Habseligkeiten in die Kleinbahn und fuhren bis Friedland / Mecklenburg. Hier wurden wir von einem Mann, mit Namen Götz (Kommunist), weiter geleitet. Mit der Großbahn fuhren wir bis Pleetz. Von dort wurden wir und noch mehrere Familien auf einem Erntewagen, der von vier Pferden gezogen wurde, nach Roga gebracht. Dort wurden alle Leute die mit uns waren in das Gutshaus eingewiesen. Jede Familie bekam ein Zimmer zugewiesen. Wir hatten wieder eine Bleibe, die Zwangsausweisung war erst einmal zu ende. Wie lange die letzte Etappe gedauert hat weiß ich nicht mehr genau. Es müssen etwa 14 Tage gewesen sein. In Roga ging das Leben einigermaßen normal weiter, wir wurden ins Dorfleben aufgenommen.
Das erste mal bin ich 1967 wieder nach Stargard gefahren. Zuerst konnte man nach Polen nur mit einer Einladung fahren. Es war Sommer, ich fuhr mit meiner Frau auf einem Motorrad nach 22 Jahren zu meiner Heimatstadt nach Stargard. Das Wohnhaus Schröderstraße 14, wo wir zuletzt gewohnt hatten stand nicht mehr. Ich konnte meinen Kietz, die Pestalozistraße, den Kleinbahnhof, meinen Schulweg, und die Innenstadt besichtigen. Es war ja so vieles kaputt. Ich kannte die Stadt nicht wieder. Anschließend sind wir die Ausreisestrecke von Piepenhagen bei Labes nach meiner jetzigen Heimat in Mecklenburg abgefahren. An dem Tag habe ich an die 500 km zurückgelegt. Danach bin ich noch viele male nach Stargard und Polen gefahren.
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