Flucht aus Stargard
Bericht von Charlotte Voigt (geb. Genz), geboren am 22. November 1911 in Stargard, verstorben am 7. März 2001 in Köthen.
Köthen, den 3. Februar 1994
gez. Charlotte Voigt
eingesandt von Horst Schulz
Eisige Kälte - Januar/Februar 1945 - feindliche Truppen standen direkt vor der Stadtgrenze von Stargard in Pommern. Deutsche Truppen waren zur Verteidigung der Stadt eingetroffen. Am 11. Februar 1945 kamen morgens Soldaten in die Wohnungen der Häuser und forderten die Frauen und Kinder auf, sofort die Stadt zu verlassen und zum Güterbahnhof zu laufen. Mit notdürftig beladenen Koffern, Kindern (3 Jahre und 6 Monate alt), Kinderwagen und im Beisein meiner Mutter, liefen wir zum Stellplatz. Mein Vater durfte, wie alle anderen Männer, die sich noch in der Stadt befanden, noch nicht fort. Ich hatte einige Tage zuvor meine Wohnung in der Barnimstraße mit den Kindern verlassen und war einige Straßen weiter zu meinen Eltern geflüchtet. Ich konnte so nicht mehr von meiner schönen Wohnung Abschied nehmen. Von meinem Mann hatte ich bereits wochenlang keine Post mehr. Er musste nach der Genesung von seiner zweiten schweren Verwundung, am 16. Juni 1944 wieder an die Front. Zur Zeit meiner Flucht war er schon am 27. August 1944 gefallen, was ich nicht wusste und es erst später nach intensiven Suchaktionen vom Roten Kreuz 1984 erfahren habe.
Mit noch vielen anderen Einwohnern unseres Wohnbezirkes wurden wir dann in aller Eile in einen stehenden Güterzug verfrachtet. Ich erhielt mit meinen Kindern und meiner Mutter einen Platz in einem mit Stroh ausgelegten Viehwagen. Der Zug bewegte sich mit unbekanntem Ziel vorwärts. Unterwegs wurden wir, insbesondere nachts, von feindlichen Tieffliegern aufgeschreckt. Der Zug hielt dann und oft mussten wir den Wagon verlassen und uns seitwärts an Böschungen, soweit sie vorhanden waren, hinlegen. Wer sein Leben behalten hatte, konnte nach Entwarnung mit zitternden Knien wieder einsteigen. Dazwischen vergingen stets viele Stunden, bevor der Zug wieder halten konnte. Um an Hilfsstellen des Roten Kreuzes Nahrung aufzunehmen und die Babys frisch zu wickeln. So hatte ich nur die Möglichkeit mit einer mitgenommenen Kerze, die ich im Strohlager entzündete, Wasser zu erhitzen und etwas Grieß, so ich noch hatte, hinein zu geben, um mit dieser dürftigen Mahlzeit den Hunger der Kinder zu stillen. Wir waren Tage und Nächte unterwegs. Der Zug nahm verschiedene Fahrtrichtungen in zunächst südliche, dann nördliche Richtung auf, bis wir in Stralsund landeten.
In Stralsund angekommen, die Stadt lag fast ganz in Schutt und Asche, wurden alle Flüchtlinge in Unterkünfte verteilt. Uns nahm ein sehr altes Ehepaar auf. Es lebte noch in dem Rest seines Hauses, im Erdgeschoss. Wir erhielten einen kleinen Raum mit einer Liege und einem Bett und bekamen von den Leuten jeden Tag drei Brikett zum Heizen geschenkt. Es war tröstlich, aber trotzdem war es kalt im Zimmer. Einige Tage blieben alle Flüchtlinge in ihren Unterkünften. Jeden Morgen erhielten wir in einem behelfsmäßig für die Milchausgabe hergerichteten Kellerraum die lang ersehnte Milch für unsere Kinder. Eines Tages traf ich hier, für mich wird es immer wieder unfassbar bleiben, meinen Vater. Er konnte sich kaum aufrecht halten und brach zusammen. Man hatte inzwischen auch die alten Männer, nachdem Kämpfe in der Stadt ausgebrochen waren, gehen lassen. Nach langen Fußmärschen konnte mein Vater auf einen Zug springen, der zufällig auch nach Stralsund fuhr. Mit Hilfe von Flüchtlingen schleppten wir den Kranken in unsere Behausung. Jedoch zwei Tage später, am 5. März 1945, mussten alle Flüchtlinge aus Stralsund heraus. Es standen Schiffe und ein langer Zug für den Transport bereit. Nach Befragung konnten wir angeben , dass wir die Möglichkeit hätten, Zuflucht in Köthen zu finden - meine Schwester lebte damals hier - und erhielten eine Fahrkarte. Der Zug war aber bereits überfüllt. Mit Hilfe des Zugführers durften wir im Paketwagen einsteigen, aber bereits in Güstrow mussten alle den Zug wieder verlassen und für eine Nacht mit einem Massenquartier in einem großen Saal vorlieb nehmen. Mein Baby war zu dieser Zeit schon sehr krank durch Hunger und Entbehrungen. Die Weiterfahrt endete dann endlich, am 6. März 1945 abends in Köthen. Hier war gerade Fliegeralarm. So wurden wir in den damals, dem Bahnhofsgelände gegenüberliegenden Bunker gebracht. Von hieraus erhielten wir dann alle unsere Quartiere, wir in der Leipziger Straße. Über drei Wochen waren vergangen. Mein Kleinkind bekam jetzt ärztliche Hilfe, es war eine lange und schwere Zeit der Krankheit, es wurde wieder gesund. Mein Vater starb. Meine Mutter blieb bei mir. Nun begann für mich im Alleingang eine harte Aufbauarbeit für das Weiterleben meiner Familie.
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