Ich zeige einem Fremden unsere Heimatstadt
Hannelore Jenne, Harlem, 15.6.2014
Sehr geehrter Herr Willbarth
Wie ich Ihnen bereits am Telefon versprach, übersende ich Ihnen hiermit einen Aufsatz, den ich als Schülerin des Königin-Luise-Lyzeums im Jahre 1943 in Stargard schrieb. Zugleich sende ich Ihnen die Fotografie unserer Klasse mit unserer Klassenlehrerin, Frau Dr. Kluge. Da ich 1928 geboren wurde, nehme ich an, dass auch meine Klassenkameradinnen um dieses Jahr geboren wurden; wir waren also etwa 12-13 Jahre alt, und das Foto dürfte etwa 1941 oder 1942 gemacht worden sein.
Vielleicht wird dieses Foto für manchen Ihrer Leser interessant sein, denn beinahe niemand wird sich während der Flucht an so ein Foto erinnert haben. Auf der Rückseite des Fotos sehen Sie die Namen der Schülerinnen. Manche Schülerinnen sind wohl während der Flucht schon gestorben. Ich hörte, das Hannelore Reichelt von ihrem eigenen Vater vor dem Einzug der Russen erschossen worden sei. Mit Ursula Zeggert, die unsere Klassenbeste war und deren Vater bei Mampe arbeitete und die später Frau Höhne hieß habe ich bis zu ihrem Ableben korrespondiert. Auch manche andere sind schon verstorben, aber es kann doch sein, dass ihre Kinder und Enkel sich für so ein Foto interessieren.
Ich erhielt übrigens Ihren Namen und Adresse von Frau Gisela Schlossmacher in Viersen. Wir sind seit unserer Schulzeit in Stargard auf dem Königin-Luise-Lyzeum befreundet. Damals trug ich den Namen Hannelore Jenne. Mein Vater war Militärarzt und Leiter des Standortlazaretts des 47. Infanterie Regiments in Stargard. Vorher war mein Vater viele Jahre lang als Arzt in Rio de Janeiro tätig gewesen und dort war ich auch geboren worden. Wie ich vom sonnigen Rio nach Hinterpommern kam, ist eine lange Geschichte. Vielleicht möchten Sie noch gerne ein paar Details wissen.
Mit einem herzlichen Gruss
L. Finkelstein
für Hannelore Jenne
d. 21.2.1943 Klasse 4.
Übertragung aus der deutschen Schrift
Ich zeige einem Fremden unsere Heimatstadt.
Rote Meer
Im Frühjahr besuchte meine Base mich für ein paar Tage und ich versprach ihr, meine Heimatstadt Stargard zu zeigen. Als wir vom Bahnhof kamen und die Bahnhofstraße entlang gingen gelangten wir bald an den Gerichts- oder Adolf-Hitler-Platz. Zuerst machte ich sie auf unser Landgericht aufmerksam und stiegen dann auf den Großen Wall oder den Nachtigallensteig hinauf. Daraufhin gingen wir auf das Rondeel, das die schönste Stelle in Stargard ist und von wo man eine schöne, weite Aussicht genießt. Nachdem wir eine Weile dort gestanden hatten, wendeten wir uns wieder dem Großen Wall zu. Bald erkannten wir rechts unseren Wasserturm und links das Rote Meer Das Rote Meer ist einer der schönsten alten Mauertürme Stargards. Er ist 1513 erbaut und seinen Namen nicht etwa nach dem Blutvergießen im 30jährigen Kriege, sondern nach einem Teiche mit rötlichem Wasser der früher dort gestanden hat.
Dann gingen wir den Wall weiter entlang und sahen zur rechten Hand die Heilige-Geist-Kirche, bei der nur merkwürdig ist, das der Turm nach Osten und der Altar nach Westen steht. Daraufhin bewunderten wir das malerische Pyritzer Tor, bei dessen Anblick man weiß, dass man in einer mittelalterlichen Stadt ist. Das Tor ist ungefähr Mitte des 16.Jahrhunderts erbaut worden. In der Nähe des Pyritzer Tor steht auch noch eines der wenigen alten Stargarder Giebelhäuser, das in dem großen Brande am 7. Oktober 1635, also im 30jährigen Kriege, nicht mit verbrannt ist. Zu der großen damaligen Zerstörung kam es so. Im Jahre 1635 wurde Stargard, das damals mit seinen Mauern und Türmen eine gute Festung war, andauernd von Schweden besetzt gehalten, während die kaiserlichen Truppen Stargard belagerten. Darum beschloss der Kommandant der Stadt, einige Scheunen, die außerhalb des Stadtringes lagen, anzustecken, um damit die hartnäckigen Belagerer, die sich in den umgebenen Sümpfen und Wäldern versteckt hielten und sich dort völlig eingenistet hatten, los zu werden. Aber als die Scheunen angesteckt waren und lichterloh brannten, schlug der Wind um und fegte die Flammen in die Stadt, die bald darauf anfing zu brennen und bis auf einige Häuser zerstört wurde.
Eisturm
Als wir rechts an der Westmauer entlang den Wollweberberg hinunter gingen, erkannten wir bald den Eisturm, der in vielem dem Roten Meer gleicht und das ehemalige Offizierskasino mit dem Blockhausturm, indem auch Marschall Blücher gern bei seinen Musterungen gewohnt hat. Daneben befindet sich zu Ehren des Marschall Vorwärts der Blücher Park. Gegenüber steht das Gymnasium, dessen Gründer Peter Gröning war. Peter Gröning lebte von 1561 - 1631 und war ein gebürtiger Stargarder. Er war seiner Zeit weit voraus, indem er hier die 1. Schule erbaute, aus der später so mancher tüchtige Professor hervorging. Dann gingen wir durch den Blücher Platz, der eine schöne Anlage hat, über die Jungfernbrücke gelangten wir zum Weidensteig und angrenzenden Bismarkplatz und die Tennisplätze.
Marienkirche
Zur linken aber machte ich meine Base auf die Marienkirche aufmerksam, die sich majestätisch aus dem Gewirr der Stadt erhebt. Die Marienkirche nennt man nicht umsonst die Perle Stargards und überhaupt Ostdeutschlands. Sie wurde im 14. und 15. Jahrhundert im gotischen Stil erbaut. Aber schon Jahre 1248 bestand die Marienkirche, jedoch nur als Parochialkirche. Dann aber baute man sie im 14. und 15. Jahrhundert noch einmal von Grund auf. Vieles hat sie unterdessen in den schweren Zeiten durchgemacht. Im 30jährigen Kriege stürzte infolge eines Brandes das Dach ein. Ihr Inneres ist 80m lang, 40m breit und 32m hoch. Ihr Äußeres wirkt gewaltig und vornehm. Jede Säule ist ausgeputzt mit Rosetten aus schwarz glasierten Steinen, mit zierlichen Spitzgiebeln, bunten Backsteinen und reichgeschmückten Blendnischen der Turmfassade. Das Äußere der Kirche wird aber noch durch das Innere übertroffen. Eine große Anzahl von Strebepfeilern ziehen sich in das Innere der Kirche hinein und eine reizende Säulengalerie zieht sich unter den Oberlichtem hin. Meine Base Dorle war ganz und gar entzückt davon und bewunderte auch die bunten Fenster und den Altar.
Schwibbogen
Dann gingen wir auf den Markt, und ich zeigte ihr unser schönes Stargarder Rathaus mit seinem Treppengiebel und dem spätgotischen Stil aus dem 16. Jahrhundert. Fast die gleiche Bauart haben noch zwei andere Häuser am Markt. Weiter ist noch die alte Hauptwache zu bewundern. Gleich hinter dem Rathaus befindet sich die kleine Badergasse mit ihren eigenartigen Schwibbögen. Daneben befindet sich das sogenannte Älteste Haus von Stargard. Es ist ein einfacher Backsteinrohbau. Dann wandten wir uns wieder zum Weidensteig zurück und gingen langsam an der Ihna entlang, um uns zu verpusten. Wir sprachen über dieses und jenes oder lauschten dem ersten zaghaften Frühlingsgesang eines Vögleins, oder wir sahen uns die quellenden Knospen einer Kastanie an, die an der Ihna stand.
Mühlentor
So folgten wir dem Lauf der Ihna an der Freiarche vorbei bis zum Walltor, das im Barockstil etwa um 1700 gebaut ist. Es bietet mit seinem Satteldach und den schönen Dachreitern ein mittelalterliches Bild. Gleich neben dem Walltor befindet sich die berühmte Kugel, über die gesagt wird, das Schill, als er in den Befreiungskriegen einen überraschenden Angriff auf Stargard machte, diese Kugel abschoss, die heute noch in diesen Haus dicht am Walltor steckt. Wir gingen noch ein Stückchen weiter hinauf zur Kleinen Mühle, bis dorthin, wo das kleine Mordkreuz ist, an dem im Jahre 1542 ein kleiner Junge ermordet worden ist. Dann gingen wir wieder zurück, bis dorthin wo der Weißkopf seine Wacht hält. Wie ein König steht er da und sieht auf die Kastanien und Linden herab unter denen täglich viele Menschen gehen, denn der Volkspark ist ein beliebter Aufenthalt der Stargarder.
Aber wir gingen weiter an der Stadtmauer entlang bis zum Mühlentor. Es ist eines der schönsten Tore, die wir haben und eines der wenigsten und in Pommern das einzigste Wassertor. Leider ist es durch einen Umbau im Jahre 1861 entstellt worden. Früher war statt des heutigen Flachbogens ein Spitzbogen, wo die Ihnakähne durchfuhren, wenn sie im Mühlenteich anlegen wollten. Auch ist das Mühlentor im Stargarder Wappen. Nachdem wir eine kleine Weile stehen geblieben waren, stiegen wir jetzt die Stufen zum Nachtigallensteig hinauf, von wo wir noch eine schöne Aussicht über die Stadt genossen. Als wir eine Zeit lang im Schauen versunken nebeneinander gegangen waren, sahen wir plötzlich den schlanken Turm der Johannes Kirche vor uns auftauchen. Sie gleicht in vielem der Marienkirche und ist 99m hoch. Sonst ist sie im Gegensatz zur Ma-rienkirche schlicht und einfach. Besonders hübsch und kunstvoll ist der Flügelaltar mit der Kreuzigungsgruppe und die alte Glocke aus dem Jahre 1464. Als wir aus der Johanneskirche heraustraten, gingen wir schnell nach Hause, wo schon meine Mutter uns erwartete.
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