Kindheitserinnerungen 1943
Es war ein Tag im Jahre 1943 in meiner Heimatstadt Stargard in Pommern. Das fünfte Jahr des Zweiten Weltkrieges machte sich für Jungen meines Jahrgangs durch die Parolen aus dem Volksempfänger, unseres kleinen Radios, den Umgang mit den Lebensmittelkarten, den Parolen an den Litfass-Säulen, den abendlichen Verdunkelungsvorschriften und der Umwandlung einiger öffentlicher Gebäude in Kriegslazarette und Internierungslager für Ostarbeiter bemerkbar.
Das tägliche Leben bestand in unserer alten historischen hinterpommerschen Stadt für uns hauptsächlich aus Schule, Hausaufgaben, Hilfen im elterlichen Haushalt, Spiel, Sport und dem Jungvolk. Den Rest der Freizeit verbrachten wir mit Freunden und Nachbarskindern überwiegend auf den noch fast autofreien Straßen in der Nähe unserer Wohnhäuser mit vielen einfachen, heute oft nicht mehr üblichen Spielarten. In den Sommerferien waren unsere Straßen fast wie ausgestorben, denn die Kinderlandverschickung, Erntehelfer oder ein nützlicher Aufenthalt bei der bäuerlichen Verwandtschaft in der Umgebung unserer Stadt waren schon vorbereitet worden. Den zu Hause gebliebenen winkte ein kühles Bad in der Ihna oder im Maduesee. Im Winter, zu Schnee- und oft tiefen Frostzeiten, gab es für Alt und Jung viele schöne Spiele und andere Betätigungsarten wie Schneeballschlachten, Rodeln, Schlittschuhlaufen, Iglu bauen, und wenn die Schuhe nass und Ohren und Finger eiskalt waren, sehnten wir uns nach unserem warmen Kachelofen mit Bratäpfeln in der Röhre. Allerdings mussten schon morgens bis spätestens acht Uhr vor dem Haus der Bürgersteig sowie der eigene Hauszugang vom Schnee geräumt und danach Sand gestreut worden sein. Uns Jungen waren natürlich nicht gestreute Wege zum Schlittern lieber, allerdings sahen die Stargarder Polizisten das leider anders.
Meine beiden Brüder und ich lebten im ersten Stock des Geburtshauses meiner Mutter, Emmy Torff-Steingräber, in der Bergstraße Nr. 51. Das von unseren Großeltern August und Auguste Steingräber, geb. Maskow, erbaute Haus mit großem Grundstück (fast 3000 qm) entlang der Rückseite der Jobstschule, endete in Höhe der Pestalozzistraße und musste bei der Erschließung dieses Jobstgebietes, ca. 1890, noch in Goldmark bezahlt werden. Meine Mutter war eine sehr fleißige und sparsame, aber auch manchmal energische Frau, die ihre drei Jungen u. a. am liebsten zum Ausgang mit gleichen Kleidungsstücken versah, z.B. mit den damals populären weißen Matrosenanzügen. „Macht Euch nur nicht gleich wieder schmutzig", manchmal hielten diese ermahnenden Worte unserer Mutter wirklich bis zum sonntäglichen Maduesee-Besuch.
Mein Vater, der Bücherrevisor Hans Torff, hatte sein Büro in dem schönen großen Eckhaus am Blücherplatz/Franz-Engels-Straße. Im Kriegsjahr 1943 wurde er wieder einmal zur Wehrmacht eingezogen, bis seine Einberufung erneut aufgehoben wurde zwecks Weiterführung der Steuergeschäfte, denn Finanzämter brauchten nun mal 1943 wie auch heute Steuergelder für den Staat.
Ich besuchte die dritte Klasse der Knabenmittelschule in der Große-Mühlen-Straße am Neuen Tor, als mein ältester Bruder, 16jährig, bereits mit seiner Abschlussklasse in Stettin als Flakhelfer eingesetzt worden war. Er und seine Schulkameraden mussten ihre „Mittlere-Reife-Prüfung" in Baracken der Flakgeschütz- und Scheinwerferbatterien bestehen und sie haben beides geschafft. Im Jahre 1943, wenn während des Schulunterrichtes die Luftschutz-Sirenen heulten, war die Order bei L 15 oder L 20 (L = Luftwarnung), dass wir sofort schulfrei hatten. Wir Schüler sollten unverzüglich Keller oder Luftschutzsplittergräben aufsuchen. Wenn bis 12.00 Uhr keine akustische Entwarnung zu hören war, sollten wir uns anschließend nach Hause begeben, so die Schulanordnung. Da befand ich mich oft in Begleitung einiger Klassenkameraden aber schon in einem Ruderboot auf unserer Ihna stromaufwärts Richtung Stargarder Stadtwald. Ein Verwandter meines Großvaters betrieb am Blücherplatz des Ihna-Ufers eine Badeanstalt mit Bootsverleih. Für wenig Geld hatten wir im Sommer bei diesen Kahnfahrten unseren Spaß, bei Luftwarnungen und meist blauem Himmel sahen wir Jungen dann die feindlichen Bomberpulks in 10.000 m Höhe, weiße Kondensstreifen hinter sich zurücklassend, in Richtung Stettin oder Berlin ihre Bahn ziehen. Wir ahnten bei unserer Fröhlichkeit nicht, dass diese Pulks ihre Bombenlast eines Tages auch auf unsere schöne Stadt abladen könnten, denn mit 13 Jahren waren wir doch noch sehr unbekümmert und fühlten uns auch ziemlich sicher. In die Sorgen, Nöte und politischen Ansichten der Eltern und anderer Erwachsener wurden wir nicht mit einbezogen und mit den Worten: „Das verstehst du noch nicht" oder „du hast hier nicht zuzuhören" abgespeist.
Mein persönlicher Tagesablauf während meiner Schulzeit an der Knaben-Mittelschule war so geregelt: „Mit den Hasen aufstehen und mit den Hühnern ins Bett gehen!" Im Sommer klappte es aber oft nicht so einfach bei mir. Das kalte Waschwasser aus der Hofpumpe oder unserer Wasserleitung im Haus, vereint mit Bumckes Kernseife, Zähneputzen mit Kriegsseife (es knirschte immer ein wenig), Mundspülung mit Odol, trieben den letzten Schlaf aus den Augen. Unsere Bekleidungsstücke lagen geordnet über unseren Stühlen. In der Küche standen schon die tiefen Teller mit der Haferflockensuppe, daneben die Stulle mit Mutters selbst gemachter Marmelade. Unser Schulbrot war bereitgelegt. Der Ranzen wurde auf den Rücken geschnallt, und flink ging's die Treppe zur Straße hinunter. Da es weder Omnibusse noch Straßenbahnen in unserer Stadt gab, was zwar geplant, aber noch nicht umgesetzt worden war, wusste sicher jeder Stargarder, wie viel Zeit auf Schusters Rappen er einplanen musste, um sein Ziel in der Stadt zu erreichen. Wir Schüler brauchten da wohl eine etwas längere „Laufzeit"
Um 25 Minuten vor 08.00 Uhr ging's los, von der Bergstraße am Großen Spielplatz, Ecke Schröderstraße, links an der Jobst- oder Schröderschule vorbei hinunter bis zur Carlstraße. Zur rechten Seite war das Gaswerk, und zwar gegenüber der Klappholzgasse am Ihna-Arm mit der Seifen- und Sodafabrik. Dann kam Karows „Große Mühle" (neu erbaut 1922) mit Gleisanschluss für Reichs- und Kleinbahn-Güterwagen. Hinter dem romantischen Mühlenteich befand sich unser Mühlentor (das frühere Hafentor), rechts der steile Steintreppenaufgang zum Nachtigallensteig, davor die neue Villa der Karows (heute ein polnisches Jugendzentrum). Mein zweitältester Bruder, Schüler der Oberrealschule, bog hier rechts an der Nordmauer ab, er hatte sein Ziel schon erreicht. Mein Schulweg führte weiter an den mächtigen Speichern des früheren Stargarder Hafens vorbei bis zum Peter-Gröning-Platz und der Schifferbrücke, über die sich der Weg zum Walltor zog. Wo die hier stark abfallende Johannisstraße rechts auf den Peter-Gröning-Platz stieß, führte mein Schulweg links in die beginnende Große-Mühlen-Straße hinein. Dann ging es an der Holzmarktstraße, wo zur linken Seite unser Hausarzt Dr. Goetsch seine Praxis hatte, vorbei bis zum rückwärtigen Ein-und Ausgang des historischen Rathauses. Ein breiter Treppenaufgang führte zum Polizei- und Standesamt. Gegenüber dieser Freitreppe, auf der sich die ersten Fotoaufnahmen von gerade frisch getrauten Ehepaaren für das Familienalbum anboten, führte Stargards wohl älteste noch erhaltene Straße, die Badergasse von 1596, den Blick weiter ostwärts in Richtung zum Land Usedom hinein. Dieser Blick, in einem Bild in Aquarellfarben dargestellt, schaffte die Veröffentlichung in den Katalog des Bundesverbandes Deutscher Künstler, gestaltet von dem Stargarder Künstler B. Th. Dietrich-Dirschau nach 1950. Die Badergasse wurde auch noch von den Stargarder Künstlern Kolbe und Espagne´ in Graphik und Aquarell der Nachwelt erhalten.
Hinter der Südseite des über 90 Meter langen Rathauses waren zu meiner Zeit nur noch die Stände der Fischfrauen mit ihren Angeboten präsent. Frische Schollen, Hechte, Plötze, Stinte sowie Körbe voller Fluss- oder Teichkrebse gab es im Angebot. Meine Mutter kaufte ihren Bedarf an Stinten immer von einem mobilen Fischverkäufer, der mit großem Schiebekarren die Haushalte vor Ort versorgte. Seine Ankündigung mit Handglocke und voller Stimme: „Hol' Stint, frischer schöner Stint", drang bis in die letzten Stockwerke. Es war ein Fischgericht, das sich wohl jede Familie leisten konnte, je nach einem Spezialrezept.
Aber zurück zum Schulweg und dem Fischmarkt. Gegenüber stand Stargards ältestes Haus mit einem Restaurant im Erdgeschoss. Die jeweiligen Besitzer hatten mit Gewissheit über Jahrhunderte im gegenüber liegenden Rathaus die Consulen und Ratsherren des Rates in ihren Roben sowie Oberbürgermeister und Bürgermeister des Stargarder Magistrats kommen und gehen sehen. Das Alter dieses Hauses soll ähnlich dem Baubeginn der Marienkirche gewesen sein. Der äußerlich reich geschmückte Chor von St. Marien, erbaut im 13./14. Jahrhundert, der seinesgleichen im Pommernlande sucht, ist wie die große Marienkapelle von dem ältesten Haus der Stadt her besonders gut zu betrachten.
Eine Erzählung hält sich über Jahrhunderte, dass ein Gastwirt, bei dem die Bauarbeiter vom Marienkirchbau in Kost und Logis standen, sich seine Kosten in Form von gebrannten Steinen des Bauwerkes hat begleichen lassen. Kein anderer Bau der Stadt aus dieser Zeit hatte die gleichen mehrfach gebrannten, farbigen, ca. 350 verschiedenen Formsteine von St. Marien so aufzuweisen. Im Museum der Stadt, unmittelbar hiner der Marienkirche, trug Studienrat Dr. Siuts alle für Stargard historisch wichtigen Funde zusammen, um die Geschichte dieser alten und früher reichen Stadt für Touristen und vor allem für Schüler interessant zu gestalten. Hier endete auch die Königstraße, die vom Eisturm herkommend in die Große-Mühlen-Straße mündete. Vor dem Neuen Tor mit der Ihnabrücke, die den Weg frei machte in Richtung Zartzig, ging mein Weg links an der nördlichen Seite der Knaben-Mittelschule in die Ostmauerstraße und in den großen Pausenhof. Die Schule, um die Jahrhundertwende zunächst als Mädchen-Mittelschule genutzt, war mit gutem Backstein gebaut worden und dient heute den polnischen Schülern als Sonderschule.
Im Sommer, an den zwei Markttagen in der Woche, änderte sich mein Schulweg. Meine Großeltern, die sieben Kinder großgezogen hatten, hatten für deren Unterhalt auch auf dem großen Grundstück mit dem Anbau von Obstbäumen, Beerensträuchern, Spargelbeeten und anderen Früchten vorgesorgt. Da auch meine Mutter ihren Garten liebte und pflegte, aber nur drei Esser zu versorgen hatte, blieben viel Früchte, herrliches Obst und Spargel übrig, und dies auch noch während der Kriegszeit. Also gingen für die Wochen vor den großen Sommerferien die überschüssigen Früchte, frisch gepflückt und in Spankörbe verstaut, zu einem Landwirt und Gemüsehändler auf den Stargarder Markt, wo die Ware bis 08.00 Uhr morgens abgeliefert worden sein musste. Jetzt war ich gefragt, zehn Minuten früher mit zwei Spankörben ausgelastet, mir einen neuen Weg über den Markt zur Schule zu suchen. An ein regelmäßiges Taschengeld kann ich mich zu dieser Zeit trotzdem nicht erinnern, nur bei besonderen Anstrengungen waren wohl einige Groschen für Kino, Eis oder sonstige Extras fällig. Der zweite Schulweg ging über die Kreuzung Bergstraße/Schröderstraße hinweg an der Bäckerei Maas und der Gastwirtschaft Körner vorbei in Richtung Einfahrt Städtisches Krankenhaus. Die Bergstraße war wohl von der Anzahl der Hausgrundstücke her gesehen die längste Wohnstraße der Stadt seit etwa 1856. Sie begann oben auf dem Berg gleich hinter dem Johannis-Rondeel mit der Nr. 1, dem jüdischen Friedhof, der Eigentum der Synagogen-Gemeinde seit dem 17. Jahrhundert war. Das zweite Haus, Eigentum des Stadtbaurats Sonnabend, stand hoch über dem östlichen Teil des Gerichtsplatzes. In diese schöne Villa mieteten sich in den dreißiger Jahren die Chefs des gegenüber liegenden Landgerichtes ein. Heute ist hier ein Kindergarten untergebracht worden, dem ich 1985 in Begleitung der Tochter des Landgerichtsdirektors Bialonski einen Besuch abstatten durfte. Am nördlichen Trakt der Gefängnisanlage begann die Karowstraße mit dem 1930 erbauten Behördenhaus. Eine Meisterleistung moderner Architektur überspannte hier deren Eingang auch zu den Villen des Stadtbaumeisters Krummbügel und seines Schwiegersohnes, des Kantors Biederstädt.
Zurück zum alten Gerichtsplatz, der seinerzeit zum Adolf-Hitler-Platz umgetauft wurde, an dessen Ostseite vorbei am Sanitätshaus Langenhagen und dem Restaurant von Otto Klebon in Richtung Johannistor bis zur turmgeschmückten Christuskirche ! Hier in der Krümmung zur Fußgängerunterführung durch die westliche Wallanlage befand, sich im Sommer der Stand eines Eisverkäufers, doch morgens vor Schulbeginn konnte er noch keine Geschäfte machen. Manchmal führte mich mein Weg auf die vor mir führende Wallanlage mit dem alten Baumbestand hinauf oder ich ging durch die Unterführung an den großen Zypressen und dem Springbrunnen vorbei durch den unteren Teil bis zum Durchgang des Rote-Meer-Turms. Die Holzmarktstraße war erreicht worden, und nun ging es in dieser Geschäftsstraße wieder bergab. Rechts lagen die großen Schaufenster des Radio- und Elektrogeschäfts Mielke. Hinter der Breite-straße, in der die Stargarder Zeitungsredaktionen zu Hause waren, stand das Gebäude der Reichspost mit dem Fernmeldeamt. Zur Linken gab es viele Fachgeschäfte bis zum großen Kaufhaus Ramelow, in dem der Kunde sich von Kopf bis Fuß einkleiden lassen konnte. Weiter ging es über die Jägerstraße bis zur Radestraße, am renommierten Fotostudio Kaegbein vorbei zum Eckgebäude der Sparkasse, die mit einem der schönsten Barockgiebel der Stadt versehen worden war, bis zum belebten Marktplatz. Von hier aus konnte man das muntere Treiben auf dem Markt gut überblicken. Der Gemüsestand, vor dem Kammer-Lichtspiel-Theater aufgebaut, war gut auszumachen, denn unsere frische Ware wurde schon erwartet. Der Blick hoch zur Marien-Kirch-Uhr zeigte die Uhrzeit an: 7 Minuten vor 8.00 Uhr. Zwischen dem Stadtbauamt (heute das polnische Museum) und St. Marien ging es im Laufschritt auf den Schulhof und in die Klasse. Der Schulranzen wurde verstaut, die Schulglocke läutete die 1. Schulstunde an, die Klassentür öffnete sich, unser Klassenlehrer begrüßte uns mit dem Hitlergruß, den wir zu wiederholen hatten und wonach dann der Name des Lehrers gesagt werden musste.
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