Kriegsweihnacht 1944
Es ist Krieg seit September 1939. Wir leben in unserem verträumten Stargard in Pommern mit seinen 40.000 Einwohnern. Stargard ist Garnisonsstadt und wie viele Soldaten sind von hier aus für Führer und Vaterland in den Krieg gezogen. Viele sind gefallen und wie viele werden es noch sein, denn der Krieg ist noch nicht zu Ende.
Unsere Familie ist an diesem Weihnachtsfest noch vollständig zusammen. Otto ist da von der Front und Georg hat auch Heimaturlaub. Eigentlich ist das schon das schönste Geschenk. Aber an diesem Weihnachtsfest ist alles gedämpfter und selbst die Kerzen scheinen ihren Glanz verloren zu haben.
Karl Beguhl Lieschen Beguhl
Was bringt uns das nun gleich beginnende Jahr 1945? Die Front ist schon in unserer Nähe gerückt und Stargard ist voll besetzt mit Flüchtlingen. Alle größeren Räume wurden zur Verfügung gestellt, so die Kinos, Gaststätten und Schulen alle belegt sind. Auch in den Privathäusern sind Flüchtlinge aufgenommen worden. Unsere Stadt ist bisher von Fliegerangriffen und Bomben verschont geblieben, aber Fliegeralarm hatten wir schon oft und konnten beobachten, wie die Angriffe über uns ausladend auf Stettin (30 km entfernt) losgingen.
Wir müssen unsere Heimat verlassen
Nach Neujahr muss Georg zurück nach Freising bei München, wohin er vom Stargarder Reichsbahn-Ausbesserungswerk beordert worden ist. Otto fährt zurück zu seiner Einheit an die Front. Bis Ende Januar sind die Russen weiter vorgerückt. Georg hat durch seine Tätigkeit bei der Bahn die Möglichkeit, seine Frau Edith und die Töchter Thea und Gisela nach Freising zu holen und so kommt er Ende Januar 1945. Es wird zusammengepackt, was an Hab und Gut möglich ist, mitzunehmen. Aber von Haus und Garten, was 1939 mit viel Fleiß und Sparsamkeit gebaut worden war - und auch von den glücklichen Jahren mit fröhlichem Kinderlachen - musste Abschied genommen werden. Damals fragte man sich: "für immer?" Auch Otto nahm zwei Tage Urlaub und holte seine Frau Dorchen und seine Söhne Wolfgang und Detlef aus der Geborgenheit einer mit viel Liebe eingerichteten Wohnung, um sie zu Papas Schwester, Tante Minchen, nach Putlitz/Prignitz (Mark Brandenburg) in Sicherheit zu bringen.
Papa, Mutti und ich bleiben in Stargard, denn noch haben wir Hoffnung; oder glauben wir an ein Wunder? Es ist so leer geworden ohne unsere Lieben und Kinder fehlen uns sehr. In den nächsten Tagen spüren wir, dass die Front näher kommt. Man hört den Kanonendonner und der Himmel ist in der Ferne rot gefärbt. Es wird von Tag zu Tag unheimlicher. Papa und ich gehen noch jeden Tag zur Arbeit, aber auch in uns ist der Gedanke, dass wir fort wollen, bevor der Russe kommt. So kommt der 26. Februar 1945. Es kann sich nur um ein paar Tage handeln, bis der Russe auch Stargard besetzt.
Papa sagt: Wenn wir noch fort wollen, muss es heute sein. Ich trau mich nicht von der Sparkasse weg, denn jeder der geht wird als Deserteur angesehen. Papa geht zum Bürgermeister und fragt ihn um seine Meinung und dieser sagt, dass wir, wenn wir noch ein Ziel haben, in der Nacht gehen sollen. So packen wir jeder einen Koffer. Papa und Mutti gehen noch einmal durch das ganze Haus, denn wir haben in Georgs Haus unsere Wohnung. Mutti weint und Papa tröstet: Lieschen, wir kommen wieder. Es ist nachts zwei Uhr, als sich der Personenzug, voll besetzt mit Flüchtlingen, in Richtung Stettin in Bewegung setzt. Ab Stettin werden wir auf offenen Wagen verladen und sind so 8 Tage in Richtung Westen - Pasewalk, Neustrelitz, Wittstock, Pritzwalk, Putlitz - unterwegs. Papas Schwester hatte uns angeboten, dass sie uns alle unterbringen wollte. Dorchen ist mit den Kindern da und wir wähnen uns in Sicherheit. Zunächst scheint es auch so. Am 5. März 1945 hören wir im Radio, dass Stargard in der Hand der Russen ist. Wie mag es Georgs Vater und Schwester gehen, die in Stargard geblieben sind?
Das Leben in Putlitz
Nun müssen wir uns für längere Zeit in Putlitz einrichten. Papas Schwester hat uns schräg rüber von ihrem Haus bei einer Familie Breuel ein Zimmer und Küche besorgt. Den Tag verbringen wir alle zusammen in dieser Wohnung, Mutti kocht für uns. Abends gehen Papa und Mutti zu Tante Minchen zum schlafen. Dorchen, Wolfgang, Detlef und ich bleiben in der Wohnung.
Nun haben wir auch wieder Verbindung zu Georg und seiner Familie, die inzwischen nach Thulbach gezogen sind. Briefe gehen hin und her und wir haben großes Heimweh nach unseren Lieben.
Ich bekomme Bescheid, dass die Sparkasse Stargard nach Greifswald verlegt worden ist. Ich will erst noch hinfahren, denn in jedem ist noch das Pflichtgefühl, dass man seinen Arbeitsplatz nicht verlassen darf. Papa rät aber ab, denn die Zugverbindungen sind schon sehr unterbrochen und es ist eine große Frage, ob ich noch nach Putlitz zurück könnte. Nun kommt auch noch eine schwere Belastung auf uns zu: Wolfgang und Detlef werden schwer krank. Für die kleinen Kinder ist die Umstellung zu groß. Sie bekommen in der recht primitiven Unterkunft eine schwere Lungenentzündung. Die ärztliche Versorgung ist mangelhaft, so dass sich bei beiden die Natur selbst am meisten helfen muss. Wolfgang ist der ältere, und er ringt sich allmählich durch, aber Detlef ist erst ein Jahr alt und wir haben schwere Tage und schlaflose Nächte. Nach dieser Krankheit sind beide Kinder sehr geschwächt und so nehmen wir mit Freuden das Angebot an, das Papas Cousin Otto Schulz macht. Er hat 4 km von Putlitz entfernt einen Bauernhof, den er mit seiner Frau, Schwiegertochter und deren zwei Kindern - Bub und Mädchen - bewirtschaftet. Sein Sohn ist noch an der Front. Er hat für uns alle Platz und vor allen Dingen für die Kinder die gute Kuhmilch. So ziehen wir Anfang April 45 dorthin. Wir helfen in Haus und Garten und auf dem Feld, so gut es geht. Die Kinder erholen sich langsam. Der Frühling kommt, aber der Krieg ist noch nicht beendet. Wir hören in den Nachrichten, dass der Russe immer weiter in unser geliebtes Vaterland einzieht. Dachten wir, über die Oder würde er nicht kommen, so erfüllt es uns mit Angst und Schrecken, dass er schon Vorpommern besetzt hat. Nun ist es auch nicht mehr weit bis zu uns. Das können doch nur Panzer sein. Am Nachmittag kommt ein russischer Panjewagen mit zwei Pferden bespannt und die ersten Russen betreten den Hof. Sie sind bewaffnet und fordern "Uri, Uri". Sie wollen Uhren. Wir (die jungen Frauen und Kinder) haben uns versteckt, aber Papa, Mutti, Otto Schulz mit seiner Frau stehen ihnen gegenüber und geben ihnen was sie fordern.
Für uns beginnt nun eine Zeit großer Angst, denn die Russen besuchen uns Tag und Nacht. Sie durchsuchen alles und alles, was sie wollen nehmen sie mit. Wir jungen Frauen müssen uns ständig verstecken, denn ab 3 Uhr Nachmittags sind sie immer betrunken und dann immer hinter den Frauen her. So werden von uns innerhalb und außerhalb des Hauses alle Verstecke ausfindig gemacht. Gut, das wir uns rundherum auskennen und die Russen nicht, denn wir drei Frauen verbringen viele Nächte in einem bewachsenen Graben ohne Wasser jenseits des Ackers. Auch im Haus haben wir unsere Schlupfwinkel. Die Russen nahmen an, dass junge Frauen da sein mussten, weil Kinder da waren. Und so durchstachen sie mit Bajonette den ganzen Heuboden. Zum Glück waren wir ihnen aber entwischt. Wir lagen an der Mauer und hörten, wie die Bajonette in das Heu stachen. In dieser Zeit kommt Otto völlig erschöpft zu uns. Er hat sich durchgeschlagen, denn er wusste ja wo wir sind. Wir sind alle der Willkür der Russen ausgeliefert, auch Otto ist nun in Gefahr.
Alles, was wir noch haben, wird uns genommen; auch unsere Gastgeber werden ausgeplündert. So reift in Otto der Entschluss: Wir müssen hier weg. Otto ist in Konstanz am Bodensee aufgewachsen und es heißt, dass alle die ausserhalb der von den Russen besetzten Gebieten beheimatet sind, ausreisen dürfen. So versucht er, für sich und seine Familie Passierscheine von den Russen zu bekommen. Ich will bei Papa und Mutti bleiben, aber meine Eltern sagen, dass ich mitgehen soll, da ich mein Leben noch vor mir habe. Otto schafft es mit viel Mühe und Raffinesse, für uns die Passierscheine zu bekommen. Der Abschied von meinen Eltern war sehr schwer, denn wir wussten ja nicht, ob wir uns je wiedersehen würden.
Wir schaffen den Weg über die Grenze
Es ist ein mühsamer Weg bis zur Grenze, vor allem mit kleinen Kindern. Dorchen hat den Kinderwagen mit Detlef und auf einem Brett darüber sitzt Wolfgang. Otto und ich haben einen Rucksack mit den letzten Habseligkeiten und etwas Proviant. Zwölf Tage und Nächte sind wir unterwegs mit Güterzügen oder zu Fuß. Vor der Grenze eine 15 km lange Menschenschlange, die Leute sitzend, stehend oder liegend, und es ist Ende Oktober. Wer noch Gepäck dabei hat, wird von den dauernd kontrollierenden Russen davon befreit.
Endlich ist die Grenze bei Friedland erreicht und es ist ein unbeschreibliches Gefühl, dass wir das geschafft haben. Im Lager Friedland bekommen wir Kaffee und Brote. Wir bleiben dort vier Tage. Bis nach Konstanz kommen wir nicht mehr, denn wir sind alle erschöpft und ich kämpfe mit einer schweren Erkältung. So nehmen wir als Ziel das kleine Städtchen Nidda in Hessen, wo Otto einmal als Soldat einquartiert war und er noch gute Bekannte hat. Ich muss dann ins Krankenhaus, eine schwere Diphterie überstehen.
Im Januar 1946 fahre ich nach Gaimersheim, wo Georg mit Edith und den Mädchen einquartiert ist. Ich bin erschüttert, wie primitiv sie wohnen, aber jeder hofft, dass sich langsam alles wieder normalisieren wird. Unser Leben nimmt nun seinen Lauf und mit vielen Anstrengungen fassen wir langsam Fuß. Meine Eltern, für die ich mit großen Schwierigkeiten die Zuzugsgenehmigung bekomme, können im Februar 1948 auch zu uns einreisen. Ich hatte in Schotten, wo ich wieder in der Sparkasse tätig war, zu meinem möblierten Zimmer noch ein großes Zimmer dazubekommen, wo ich meine Eltern unterbringen konnte. Dorchen und Otto mit ihren Söhnen wohnten in Nidda - 25 km entfernt - dorthin fährt eine Kleinbahn, so dass wir immer Verbindung haben. Mit Georg und seiner Familie, die inzwischen in Ingolstadt wohnen, gibt es nun ein Familientreffen. So ist unsere Familie - wenn auch ganz anders als wir es uns einstmals erträumt hatten - wieder vereint.
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