Rückkehr vom Fronteinsatz mit unerlaubtem Abstecher nach Stargard
Dr. Alfred Schwichtenberg
Hölderlinstraße 27
57076 Siegen-Weidenau
Tel.: 0271 73622n Eltern.
Mein Fronteinsatz als Offiziersanwärter des Geburtsjahrganges 1925 bei der ehemaligen Deutschen Luftwaffe fand von Oktober bis Dezember 1944 bei der 4. Fallschirmjäger Division im nördlichen Apennin statt. Diese Division und die Waffen SS Panzer-Grenadier-Division„Reich-führer SS" hatten den Auftrag das Gebiet um den Futapass zwischen Florenz und Bologna zu sichern und zu halten. Auf der gegnerischen Seite standen je vier britische und nordamerikanische Divisionen. Heute liegt am Futapass ein deutscher Soldatenfriedhof mit 20 000 Toten des 2. Weltkrieges.
Die Rückkehr unseres Lehrganges nach dem Fronteinsatz fand während des Jahreswechsels 1944/45 statt. Da das Eisenbahnnetz in Norditalien mit den Brücken über den breiten Po durch alliierte Jagdbomber (genannt Jabos) weitgehend zerstört worden war, konnte unsere Fahrt nach Berlin nicht in einem geschlossenen Truppenverband erfolgen, so erhielt jeder einen Einzelmarschbefehl. Es wurde während der Nacht mit einem Versorgungsfahrzeug der Deutschen Wehrmacht die Strecke Bologna-Verona gefahren.
Ich erreichte mit einem LKW in der Neujahrsnacht den Fluss Po. Für die Überfahrt wurde jede Nacht eine Pontonbrücke zusammen geschoben, über die dann der LKW-Verkehr wechselseitig verlief. Dort wurde das neue Jahr am Po von einzelnen Soldaten mit einigen in die Luft geschossenen Gewehrsalven begrüßt. Während dieser nächtlichen Zeit waren aber auch Nachtjabos unterwegs, deshalb fuhren alle Kraftfahrzeuge ohne Licht und wir entgingen einem Luftangriff.
Nach der zweiten Nachthälfte erreichte ich das deutsche Soldatenheim in Verona. Dort wurde am nächsten Tag erst einmal von dem für die letzten Wochen nachgezahlten Wehrsold Schokolade eingekauft, die es im Reichsgebiet schon lange nicht mehr gab. Am Abend habe ich im Soldatenheim noch einen deutschen Spielfilm angesehen. Danach standen mehrere Omnibusse bereit für die Weiterfahrt nach Bozen.
Diesen Soldatentransport hatten die alliierten Nachtjabos mit Hilfe italienischer Kollaborateure ausfindig gemacht und so fielen auf der Fahrt von Verona nach Bozen Bomben. Ein Kamerad in unserem Omnibus bekam einen Bombensplitter in den Kopf und war sofort tot. Sein Leichnam wurde ausgeladen und auf dem in der Nähe gelegenen Soldatenfriedhof Kostermano nahe dem Gardasee begraben.
In Bozen angekommen, konnte jeder endlich Marschverpflegung bekommen und die Fahrt ging nun bei Dunkelheit mit der Eisenbahn weiter in Richtung Brennerpass. Da die Bahnstrecke am Vortage bombardiert worden war, musste unser Personenzug schon nach kurzer Fahrt für dreißig Stunden an einer durch Bergvorsprünge gesicherten Stelle anhalten. Und das bei Minusgraden und ohne Heizung! Am Brennerpass gab es dann das sogenannte „Führerpaket" (Nahrungsmittel wie Zucker, Mehl usw.) mit einem Datumsstempel in das Soldbuch. Aus diesem Grund ließ ich mir kein Paket aushändigen, weil damit eine Zeitkontrolle bestanden hätte. Der D-Zug vom Brennerpass fuhr noch planmäßig bis Berlin durch. Ich aber wollte nach überstandenem Fronteinsatz einen Abstecher in meine Heimat Stargard machen. Meine Gemütsverfassung war geprägt durch die Tatsache, dass ein Viertel unseres Lehrganges verwundet, gefallen oder in Gefangenschaft geraten war. So schreckten mich der Dienstverstoß oder der Gedanke an eine Strafe nicht von meinem Vorhaben ab.
Über München und Hof in Oberfranken erreichte ich nach einer ganzen Tagesfahrt Berlin. Hier fuhr ich sofort mit der S-Bahn weiter zum Stettiner Bahnhof im Nordosten des Stadtzentrums. Gegen 22 Uhr kam der übliche Fliegeralarm, während ein Fronturlauberzug nach Königsberg in Ostpreußen auf dem Nebengleis stand. Gegen 1 Uhr wurde der Fliegeralarm aufgehoben und durch Lautsprecheransage bekannt gegeben, dass der Fronturlauberzug sofort bestiegen werden kann. Die fällige Marschbefehlskontrolle würde später im fahrenden Zug erfolgen.
Es stiegen nur wenige Personen in den nächtlichen Zug und ich suchte mir einen unbesetzten Waggon, so dass es keine Zeugen für mein Vorhaben geben konnte. Ich wählte ein Abteil in der Nähe des Ein/Ausstieges. Während der Fahrt beobachtete ich aufmerksam die Gänge. Als ich das Kommen der Kontrolle (Militärpersonen, im soldatischen Wortgebrauch Kettenhunde, genannt im Nachbarwagen hörte, begann das Untertauchen. Ich öffnete die Zugtür und stieg bis auf die unterste Stufe. Nun schloss ich die Wagentür von außen. In geduckter Stellung hielt ich mich krampfhaft an der Einstiegsstange fest, während der kalte Fahrtwind mir um die Ohren fegte. So verharrte ich etwa eine Viertelstunde. Danach stieg ich wieder ein; es hatte also geklappt, ich war der Kontrolle entgangen!
Gegen 5.30 Uhr hielt der Zug endlich in Stargard. Um auch hier einer Kontrolle zu entgehen, stieg ich, da ich die Örtlichkeiten ja kannte, auf der falschen Seite aus und verließ über den Güterbahnhof das Bahngelände. Gegen 6 Uhr morgens am 4. Januar 1945 meldete ich mich in der Schuhstraße 47 bei meinen Eltern. Diese hatten mich natürlich noch in Italien vermutet.
Hier blieb ich vier Tage. In meiner Uniform traute ich mich nicht auf die Straße, abends ging ich dann abwechselnd zu einer alten und einer neuen Freundin. Die neue Freundin, Ingrid Ziemer, Großer Wall 17, wurde acht Jahre später meine Ehefrau.
Am 8. Januar 1945, früh morgens gegen sechs Uhr brachte mich mein Vater als Mitglied der Stargarder Hilfspolizei in Polizeiuniform zum Stargarder Hauptbahnhof. Dem meinen Marschbefehl prüfenden Unteroffizier fiel natürlich auf, dass als Reiseziel Berlin genannt war und forderte mich auf zum Wachlokal am Bahngleis zu gehen, was ich auch wiederspruchlos tat. Außer Sichtweite stieg ich allerdings sofort in den überwiegend mit Fremdarbeitern besetzten Zug nach Stettin. Dort im großen Wartesaal wartete ich unbehelligt bis ein geeigneter „Bummelzug" in Richtung Berlin fuhr. In diesen langsamen Zügen, die auf jedem Dorfbahnhof hielten, gab es keine Militärkontrollen. Gegen 14 Uhr erreichte ich den Stettiner Bahnhof in Berlin. Da hier alle ausstiegen, Zivilisten sowie auch einige Soldaten, konnte der kontrollierende Soldat in der Eile nicht alle Militärpersonen überprüfen und so war es für mich ein Leichtes, ohne Kontrolle durchzukommen.
In der Kaserne in Berlin-Gatow traf ich bereits einen Teil meiner Kameraden aus Italien an. Andere waren noch nicht eingetroffen, da sie einen Abstecher nach Hause gemacht hatten. Nur einige Wenige waren einer militärischen Kontrolle in die Hände gefallen.- Aber auch hier wieder die traurigen Berichte über weitere verwundeten, gefallenen, oder in Gefangenschaft geratenen Kameraden, die der 1. Fallschirmjäger Division zugeteilt worden waren.
Die englische Luftwaffe bombardierte Stargard am 22. Februar und am 4. März 1945 besetzte die Rote Armee meine Heimatstadt Stargard.
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