Kurd Schuh
(Aus: Pommern-Brief
vom 20. Mai 1952)
Das Stargarder Schützenfest zu Pfingsten
In München feiert man im Herbst das Oktoberfest. Ich habe es noch nie mitgemacht und weiß nicht, ob es ein Vergnügen ist. Aber dass der Bremer Freimarkt sich fast jedes Jahr nur mühsam gegen niederprasselnden Oktoberregen und heulenden Herbststurm behauptet, weiß ich aus Erfahrung, und dass der Hamburger „Dom" im kalten und feuchten Dezember ein Vergnügen sein soll, will mir nicht einleuchten.
Eins aber weiß ich, dass das Stargarder Schützenfest ein wirkliches Vergnügen war. Denn die Stargarder hatten sich die schönste Zeit des Jahres dafür ausgesucht, die Pfingsttage, zu denen sich der Schützenpark eben frisch begrünt hatte und die Maiensonne warm herniederblickte, aber noch nicht sengend brannte. Und für ein Dorfkind wie mich, das bis dahin höchstens die blinkende Perlen- und Flitterherrlichkeit eines Karussells oder allenfalls eine Luftschaukel mit messingblitzenden Gondeln erlebt hatte, war es eine Märchenwelt voll unausdenkbarer Fülle.
Natürlich wird das Stargarder Schützenfest der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, gemessen an den großen Rummelplätzen unserer Zeit, eine sehr bescheidene Angelegenheit gewesen sein. Aber ein Kind nimmt alles noch mit unverbrauchten und unverdorbenen Sinnen auf: Die Bonbon- und die Waffelbuden, die Schießbuden und die Würfelstände („über zwölf gewinnt, bei achtzehn die freie Auswahl!"), den Mann, der türkischen Honig verkaufte und den sein roter Fez als „echten" Türken kennzeichnete, die Bauchladenhändler mit den hundert Schnurrpfeifereien und der im leichten Winde wehenden Traube der bunten Ballons. Es war alles so schön und so verführerisch, dass man nicht wusste, wohin zuerst sich wenden. Aber jede Ausgabe auf dem Schützenfest musste sorgfältig überlegt werden; denn die paar Groschen oder im Höchstfalle das silberne Markstück im Portemonnaie erforderten bedachtsames Handeln.
Natürlich brauchte man zum Schützenfest den obligaten Federpuschel, der einen ganzen Groschen kostete. An einem Rohrstöckchen saß ein Büschel buntgefärbter Putenfedern, wundervoll geeignet dazu, einer vorbeikommenden Schönen zart durchs Gesicht gestrichen zu werden. Die Hygiene war damals noch nicht erfunden, und so genoss jeder, ob er puschelte oder gepuschelt wurde, unbeschwert dieses harmlose Vergnügen. Ein- oder zweimal während des Schützenfestes leistete man sich dazu eine Tüte voll Konfetti, das sich wundervoll eignete, als buntfarbiger Regen einem Mädchen ins Haar gestreut zu werden. Wem diese Ausgabe als zu hoch erschien, der half sich damit, die Papierschlangen auf der Berg-und Talbahn zu sammeln und sie mit Hilfe einer Schere zu einem ziemlich grobschlächtigen Papierhäcksel zu brocken, dem leider ganz die zärtliche Beschwingtheit des echten Konfettis abging.
Die damaligen „Sensationen" aber waren jedes Jahr die gleichen. Da stand im Mittelpunkt des ganzen Platzes die Berg- und Talbahn, deren Wagen donnernd in den Schienen liefen, grell übertönt von dem Riesenleierkasten, vor dem eine Dirigentenmarionette ihren Taktstock auf- und abbewegte zu dem neuesten Schlager „Püppchen, du bist mein Augenstern". Da waren andere Karussells der gewöhnlichen Art, denen sich nur kleine Kinder und andere ängstliche Gemüter anvertrauten, von allen fortschrittlichen Schützenfestbesuchern selbstverständlich freundlich übersehen. Da war das Hippodrom, wo man auf richtigen Pferden reiten konnte. Sein Besuch ließ eigentlich immer zu wünschen übrig, weil man außer dem Eintrittsgeld von ein oder zwei Groschen noch für das Reiten extra bezahlen musste.
Aber an jedem Schützenfest gab es einen großen Tag. Das war, wenn das alte Fräulein von X. den Schützenplatz besuchte. Jeder in Stargard kannte die weißhaarige Demoiselle, weil sie ein wenig schwach im Kopfe war und darum mit unnachahmlichem Hochmut erhobenen Kopfes durch Stargards alte Straßen ging. Kam sie zum Schützenfest, dann suchte sie selbstverständlich nur das Hippodrom auf, und ihr nach drängte sich eine Menge, dass die Kasse den Ansturm kaum bewältigen konnte. Waren aber die Tribünen bis auf den letzten Platz gefüllt, dann ließ der Rittmeister die Kapelle Tusch blasen und forderte das alte Fräulein zu einem Ehrenritte auf.
Mit berechtigter Grandezza bestieg sie dann eines der Rösser im vornehmen Damensattel, ihr rüschenbesetztes Staatskleid wurde zweckvoll hin dekoriert, und auf die ersten Takte der Musik hin begann sie ihren Ehrenritt, den Blick hinauf gerichtet in die Ferne, wo sich ihr Geist bewegte. Von ihrem Strohhut nickte eine Straußenfeder im Takte des trabenden Rössleins mit. Die Zuschauer schmunzelten oder schrien vor Vergnügen, je nach ihrem Temperament. Das alte Fräulein von X. aber hatte den großen Tag ihres Jahres hinter sich und das Hippodrom eine gefüllte Kasse.
Natürlich kamen damals auch schon jene gewalttätigeren Sensationen auf, die heute mit Radau und nervenmörderischem Gekreisch den Höhepunkt der Rummelplätze bilden. Das Teufelsrad etwa, von dessen spiegelglatter Fläche man meist nur allzu rasch mit sanftem Schubs herniederglitt, die „lustigen Tonnen", ein mannshoher sich drehender Tunnel, durch den man mit aller Kunst hindurch schreiten musste, wollte man nicht auf den Rücken fallen und zur Belustigung der Zuschauer wie ein hilfloses Paket weitergedreht werden, die „Teufelsmühle", deren Hauptspaß es war, auf einem laufenden Bande gleitend, den Strick einer Glocke zu greifen und anhaltend zu „bimmeln".
Und selbstverständlich gab es all die anderen Sensationen eines Rummelplatzes zu sehen: die dickste Dame der Welt, den größten Mann und die kleinsten Menschen der Welt, eine Riesenschlange und ein Krokodil, die siamesischen Zwillinge und einmal auch Lionel, den Löwenmenschen, dessen kunstvoll auf Löwe frisiertes Haupt auf grellen Plakaten durch die ganze Stadt schon die Festbesucher anlocken sollte zu dieser bedeutsamsten Sehenswürdigkeit. Wenn am Sonntag nach Pfingsten das Schützenfest endete, erschien einem die Welt trotz aller Maienfrische grau und tot. Wie ein bunter Traum war alles verflogen und zerstoben. Man zählte seufzend im Portemonnaie nach, ob noch ein Sechser oder ein Groschen geblieben war, und nahm sich vor, rechtzeitig schon Rücklagen zu machen für das nächste Jahr, um wirklich einmal alle Herrlichkeiten auskosten zu können auf dem Schützenfest zu Pfingsten in Stargard.
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