Von der Kreisstadt zum Stadtkreis

Aus Heinz-Jürgen Torff - 2009 "Erinnerungen an Stargard in Pommern"

„Als Stargard aus dem Dornröschenschlaf eines Ackerbau betreibenden Land- und Kreisstädtchens zu erwachen begann, etwa Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, da gellten ihm die Pfiffe der ersten Lokomotive in die Ohren." So beschrieb es der Baurat Schröer anfänglich in seinem Bericht „Aus Stargards Geschichte" im Auftrag des Magistrats der Stadt im Jahre 1922. Veröffentlicht wurde sein Bericht in „Deutschlands Städtebau," gedruckt im DARI (Deutscher Architektur- und Industrieverlag) in Berlin-Halensee.

Lokomotive

Es ist eine Freude, die alten und neueren baulichen Veränderungen zu erkennen und zu beachten, die es in überraschend schneller Weise zu einer Provinzialstadt von achtbarer Bedeutung und Größe heranwachsen ließen. Die neue Musik der Lokomotiven war es auch, oder vielleicht sogar in erster Linie, der die Stadt den Ausbau des Bahnnetzes zum wichtigen Eisenbahnknotenpunkt verdankte. Von ihm teilten sich die Linien aus Berlin-Stettin in Richtung Kreuz-Posen, Köslin-Danzig, Pyritz- Küstrin-Kallies und Nörenberg.

Aus diesem Grund bewegte sich die folgende bauliche Entwicklung der Stadt auf dem Bahnhof und dem neuen stets wachsenden Reichsbahn-Ausbesserungs-Werk (RAW) und weiter gen Westen zu. Das „Neuere Stargard," von dem Architekten Nax eindrucksvoll beschrieben, listet auf, in welche kommunalen baulichen Veränderungen die Stadt kurz vor und nach der Jahrhundertwende modern investierte. Nach dem Durchbruch am „Neuen Tor" im Zuge der Große-Mühlen-Straße folgte die Anlage der Chaussee nach Zachan und mit ihr die moderne Bebauung der Zartziger Straße. 1889 wurde das Grundwasserwerk oberhalb der Stadt am linken Ihna-Ufer, das ein vorzügliches Trinkwasser lieferte, mit einer halben Million Mark errichtet. Es folgte die Schwemmkanalisation mit einem Kostenaufwand von rund 800.000 Mark. Die in großen Brunnen und Filtern gereinigten Abwässer flossen jetzt über die Kläranlage in die Ihna unterhalb der Stadt hinter dem neu gebauten Schlachthof. Dem Neubau dieses modernen Schlachthofs wurde auch bald ein großflächiger Viehhof für die wöchentlichen Viehmärkte in nördlicher Richtung angegliedert. 493.000 Mark investierten hier Stadt und die Stargarder Fleischergilde. Es wurde auch eine Freibank eingerichtet.

Gaswerk

Das Stargarder Gaswerk in der Karlstraße wurde aus einer Aktien-Gesellschaft in den Besitz der Stadt überführt. Für mehr Helligkeit und Sicherheit auf den Straßen sorgten jetzt die schönen Gaslaternen mit den 383 Gasglühlichtbrennern. Fast eine halbe Million Mark kostete der Ankauf. Das Elektrizitätswerk, vormals Fa. Schuckert und Co., wurde nach Erweiterung ebenfalls in Stadtbesitz übernommen. Der elektrische Strom für Stargard im neuen Jahrhundert wurde außer aus dem städtischen E-Werk überwiegend vom Großkraftwerk Stettin durch die Überlandzentrale Massow bezogen. Die Stadt sicherte sich und den von ihr eingeleiteten technischen Fortschritt so mit den wichtigen neuen elektrischen Energien ab.

Das Stadtkrankenhaus in der Bergstraße bekam 1910 zusätzlich ein Männerhaus als modernen Neubau, der ein Aufnahmevermögen von mehr als 150 Betten zu der Gesamtbelegung brachte. Die Landkreise Pyritz und der Kreis Saatzig waren hier in der Nutzung mit eingeschlossen.

Das Schulangebot war in seiner Qualität und Anzahl hervorragend. Schon lange gehörte es zur Tradition, dass auch aus nah und fern Schülerinnen und Schüler hier die Gelegenheit einer vorzüglichen Schulausbildung bekamen. Die jetzt kreisfreie Stadt hatte, mit etlichen schulischen Neubauten, in ihren Mauern das Peter-Gröning-Gymnasium nebst der Oberrealschule, ein Lyzeum und Oberlyzeum (Königin-Luisen-Schule), jeweils eine Knaben- und Mädchen-Mittelschule, mehrere Hauptschulen, eine Hilfsschule (Sonderschule), eine Berufsfachschule sowie die katholische und die jüdische Religions-Schule.

Krankenhaus

Die Garnisonsstadt Stargard konnte durch den Neubau der Grenadier-Kaserne jetzt die Soldaten aus ihren bisherigen Bürgerquartieren entlassen. Die Stadtgärtnerei verlegte man in das „Schweizer Häuschen" am Johannistor.Der Marienkirchbauverein wurde gegründet, um die Finanzierung für die bald fällige Restaurierung von St. Marien zu sichern. 1893 wurde unter dem Oberbürgermeister Schröder die Johanniskirche von ihrem abgeschrägten Kirchturm befreit für eine neue Turmspitze, mit 98 m die höchste der Kirchen Hinterpommerns mit großer Kugel und Metallkreuz, errichtet von dem Stargarder Schlossermeister Becker mit seinen tapferen Gesellen in luftiger Höhe, wochenlang Wind und Wetter ausgesetzt. Wie seine Enkelin, Frau Hildegard Becker aus Barth, schrieb, hatte sich ihr Großvater nie mehr richtig von diesen Strapazen in luftiger Höhe erholt. Über hundert Jahre trotzte das schwere Kreuz dort oben Wind und Wetter, bis es 1997/98 durch eine Schieflage wieder eine Gefahr für das große Kirchendach wurde. Kattowitzer „Gebäude-Alpinisten" öffneten die große Kugel, sicherten den geschichtlichen Inhalt und stabilisierten das große Kreuz. Für das neue fleißige Stargarder Museum war es eine historische Ausbeute: Münzen aus der Kaiserzeit, Stargarder Zeitungsausgaben von 1893, Magistrats- und Kirchendokumente, alles fein handgeschrieben, sowie fotographische Aufnahmen prominenter Stargarder Bürger damaliger Zeit. Der Stargarder Heimatkreis in Elmshorn bekam einige gute Kopien zugesandt.

Madüsee

1888, im Drei-Kaiser-Jahr, schuf Stargard auch die finanzielle Voraussetzung zur Einrichtung seiner freiwilligen Feuerwehr. 1901 wurde die Stadt zum Stadtkreis erhoben und der nun selbständige Kreis Saatzig erhielt in der späteren Hindenburgstraße ein Kreishaus.

Das Landratsamt dient heute der Stargarder Stadtregierung als Rathaus. Nachdem durch den Stadtbaurat Sonnabend 1902 an der Ihna aufwärts der ca. 70 Morgen große Stadtwald parkähnlich angelegt wurde, hatten die Bürger einen eigenen grünen bewirtschafteten Ausflugsort.

Dann, 1911, fand das wohl größte Stargarder Kirchenfest der Kaiser-Zeit statt, die Neuweihung der Kirche von St. Marien am Marktplatz. Mit einem Kostenaufwand von über ca. 400 Tausend Mark und vielen kostbaren Spenden von der kaiserlichen Familie, ehrenwerter und vermögender Stargarder Bürger, vieler Gutsbesitzer mit Stargarder Tradition, von den Gilden, aber auch den Bürgern, gleich wessen Stand. Alle trugen ihr Scherflein dazu bei. Sie finanzierten das kirchlich schönste Schmuckstück der Stadt. Restauriert wurde die Kirche nach den Vorlagen des Archiediakonus von St. Marien, Pastor Ulrich Redlin von der Johanniskirch-Gemeinde. Dessen Grabstein konnten wir 1996 noch in die alte Krämer-Kapelle von St. Marien sichern. In die Kirche St. Johann wurden während dieses jahrelangen Umbaues die sonntäglichen Militärgottesdienste hin verlegt. Die Festpredigt hielt Superintendent Brück in Gegenwart von Kaiser Wilhelm II. mit Gefolge.

Die stadt- und kirchengeschichtlichen neuen Kirchenfenster stammten aus der Fabrikation der berühmten Glasmaler de Bouche aus München und der Glaskunstwerkstatt Linnemann aus Frankfurt am Main. Hier sehen wir wichtige kirchliche Handlungen. abwechselnd mit bedeutsamen Vorgängen aus der pommerschen Kirchengeschichte zur Darstellung gebracht. Der Architekt Denecke, schon an der Marienkirche auf der Marienburg tätig gewesen, hatte das Werk vollbracht, die Neuerungen mit der alten Baustruktur so gestaltet, dass die Übergangsstellen dem Betrachter verborgen blieben. St. Marien mit seinen 21 Kapellen und noch mehr mittelalterlichen Altären wurde von der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts bis 1911 in sechs großen Bauabschnitten über die Jahrhunderte verteilt erstellt.

Der o. a. Stargarder Stadtwald konnte allerdings in den Sommermonaten mit dem 1913 vom preußischen Staat abgekauften Maduesee nicht konkurrieren. Stargards Stadtverordnetenvorsteher Justizrat Paul Falk, der spätere Ehrenbürger der Stadt, hatte dieses großartige Projekt Stargard geplant und vollendet. Jedes Wochenende fand jetzt eine kleine Völkerwanderung  auf der Stettiner Chaussee zu Fuß oder mit allen möglichen Fahrzeugen statt. Der Verkehr nahm schon lebensbedrohliche Formen an. Da rief der 1907 zum Oberbürgermeister gewählte Albert Kolbe später ein Arbeitsbeschäftigungsprogramm ins Leben. Die damals im Rahmen der Erwerbslosenfürsorge geförderten Arbeiten für alte und junge Stargarder schufen zu beiden äußeren Seiten der Baum-Allee, 8 km lang geteerte Fuß- und Radwege mit einem Kostenaufwand von nur einhunderttausend Mark. Eine von der Reichsbahn neu eingerichtete Haltestelle „Maduesee", von Stargard nur 14 Minuten Bahnfahrt, half die Verkehrssituation auf der Straße auch zu entschärfen. Heute wie vor fast 100 Jahren bauen und bauten finanziell gut situierte Stargarder Bürger ihre Sommerhäuser, jetzt Villen, am nördlichen Maduesee-Gelände. Es war zu damaliger Zeit die wohl nachhaltigste Investierung für die Stadt Stargard im frühen 20. Jahrhundert. Nicht nur in den „Stargarder Sagen" des Prof. Dr. Otto Knoop mit zwanzig herrlichen Geschichten über die Madue ist diese Erinnerung festgehalten worden, sondern auch im Bewusstsein der vielen Stargarder Heimatfahrer. Von ihnen wird wohl kaum einer ohne einen „Halt" am heimatlichen See vorbeifahren.

Über die „große Maräne" im See hat ein pommerscher Dichter in früher Zeit ein beachtliches Mundart-Gedicht in 40 Versen geschrieben. Den ersten und letzten Vers will ich den Lesern nicht vorenthalten:

In Pommernland da is een See
so grot und deep, Madue hitt de,
De is so spegelblank und klar,
Un Fisch sind in, de Fisch sind rar.

De Tied is hen, de Lüd sind dodt,
Doch de Maränen sind noch good
Un bröcht ehr uk de Düwel her-
Dat schmeckt upstuns ken Mönch nich mehr.

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