Stargarder Geschichten

Werner Lenz Ober/Ottersbach 3, 53783 Eitorf/Sieg - Stargarder Jahresblatt 2010

Die letzte Bank

Aufgeklärt wurden und waren wir Jugendlichen damals noch nicht. Alles was man wusste, war vom Hörensagen und was man von den Alten aufgeschnappt hatte. Eine Freundin, die man hatte, wurde verheimlicht, damit die Eltern es nicht wissen sollten. Hatte man aber eine längere Bekanntschaft, so hatten es die Eltern doch erfahren."Was ist das für ein Mädchen?"„Wo wohnt es?"„Was sind ihre Eltern u.s.w.?" Und dann wurde die Sache mit den Verwandten diskutiert. Und dann war ein Onkel oder eine Tante dabei, die die Familie kannten. Der Vater oder Urgroßvater war ein Filou wusste jemand. Daher wurde der Umgang mit dem Mädchen beendet. Das aber in unserer Verwandtschaft mehrere Filous waren, spielte keine Rolle.

Werner Lenz

Wo also traf man sich mit seinem Mädchen? Und wo ging man hin? Der Goethepark, die Wallanlagen am Roten Meer und der Nachtigallensteig waren die richtigen Plätze! Auch der Weidensteig war angenehm, nur zu weit draußen von unserem zu Hause.

In den Anlagen am Roten Meer standen genug Bänke, nur war man nicht allein, dauernd gingen Leute vorbei. Da war der Platz um das Bismarck-Denkmal, das man über das Johannistor erreichte, etwas einsamer. Im Nachtigallensteig aber standen die Bänke weit auseinander und man war fast ungestört, außer Liebespaaren kam kaum einer vorbei.

Die letzte Bank, die links vor der Treppe stand, die in der Peter-Gröning-Straße am Mühlentor endete, war die einsamste. Die Treppe hoch kam keiner, denn die war hoch und hatte viele Stufen. Runter ging auch keiner, denn wo wollte er hin. Abends und nachts stand die Bank am Ende der Welt. Ich habe daher bei Tag und Nacht die Bank immer leer vorgefunden, es sei denn ich saß mit meinem Mädchen drauf.

3 Stargarder Jungen und ihr Schicksal

Wir 3 Jungen wohnten in der Bergstraße und Ecke Lehmannstraße, ca. 50 m auseinander. Gerhard Heucke, der 1 Jahr ältere, lernte Schlosser auf der Kleinbahn. Arthur Schulz, der jüngste, lernte Tischler. Er war Zugführer beim Jungvolk. Ich, Werner Lenz, lernte Elektriker und wurde beim Jungvolk als Segelflieger ausgebildet.

Wir 3 trafen uns Samstags nach Feierabend beim Gastwirt Körner, Bergstr. Ecke Schröderstr. Tranken 1 Bier und 1 Korn und gingen dann über den Gerichtsplatz durchs Rote Meer in die Holzmarktstr., Caree-schie-ben. Anschließend zum Tanzen ins Stadttheater, oder im Schützenhof, oder Kaffee neben dem Kino Capitol. Oder gingen ins Kino, wenn ein spannender Film lief. Im Sommer fuhren wir mit dem Rad nach Madüsee baden, oder ins Stargarder Freibad an der Ihna.

Hier mussten wir durch Mexiko fahren „Stargard war die größte Stadt der Welt. Sie reichte vom Roten Meer bis Mexiko". Oft fuhren wir auch mit der Eisenbahn zum Seefelder Tanger tanzen. Wir hatten natürlich auch Mädchen kennen gelernt. Die eine oder andere Freundschaft ging zu Ende, wenn einer ein Mädchen hatte und die anderen hatten keines. Nur Artur Schulz hatte eine Stargarder geheiratet, nur 1 Jahr später war er tot.

Als Gerhard Heucke 18 Jahre alt wurde, kam er als Soldat zur Marine. Sein Schiff wurde versenkt und er kam nach 0ttawa/Canada in Kriegsgefangenschaft. Arthur Schulz wurde bei der Infanterie Offizier und ist in Rußland gefallen. Ich war bei der Flak/V1 und kam in Schleswig-Holstein in Gefangenschaft. Arthur Schulz und ich trafen uns damals einmal in Stargard, als wir Urlaub hatten. Da war Gerhard Heucke schon in Gefangenschaft. Nach dem Krieg ging Gerhard Heucke nach Ostfriesland, wo er heiratete. Heute ist er schon lange tot.

Ich ging ins Rheinland. Heiratete und lebe bei meinen Kindern, nachdem meine Frau verstorben ist, in unserem Haus, das wir 1950 gebaut hatten. Stargard hat nach dem Krieg keiner von uns wiedergesehen.

Kein Geld

Ich kam mit 14 Jahren in die Lehre. War vom Montag bis Samstag beim Meister in Kost und Logie. Daher bekam ich keinen Lohn. Samstags und Sonntags wollte ich mit meinen Freunden ins Kino oder Tanzen gehen. Wollte auch mal ein Bier trinken und Zigaretten rauchen. Hatte aber kein Geld. Mein Vater, der in der Woche so um die 20 Reichsmark verdiente, konnte mir auch nicht helfen. Trotzdem steckte mir meine Mutter eine oder zwei RM zu und 6 Zigaretten.

6 Zigaretten kosteten 20 Pfennig, Kino kostete 30 Pfennig, vorne im Rasiersitz, d.h. in der ersten Reihe ganz vorne und 5 Korn kosteten 5o Pfennig, das war 1 RM pro Tag und wir hatten einen schönen Abend erlebt. Sonntags kostete der Eintritt zum Tanzen 30 Pfennig, Zigaretten 20 Pfennig, 1 Bier 25 Pfennig und 2 Korn 20 Pfennig, so war auch der Sonntag gerettet.

Als ich älter wurde und schon als Lehrling selbstständig arbeiten konnte, gab es schon mal Trinkgeld. Und später im 2. bis 3.  Lehrjahr hat man schon mal Schwarzarbeit gemacht. Jetzt konnte man schon mal ein Mädchen ins Kino einladen. Ab dem 3. Lehrjahr wohnte ich wieder zu Hause, statt beim Meister und bekam die Stunde 30 Pfennig Lohn. Das waren 18 Reichsmark die Woche. 10 RM gab ich meiner Mutter und mit 8 RM tat ich die Welt erobern.

Jetzt fuhren wir mit der Bahn nach Berlin ins TROKADERO oder besuchten die ATLANTIK-BAR und ließen die Puppen tanzen! Rechnen Sie mal aus was man für 8 RM alles machen konnte: 1 Bier 20 Pf., 1 Korn 10 Pf., 6 Zigaretten 20 Pf., 1 Tasse Kaffee 20 Pf., 1 Stück Kuchen 50 Pf., Eintritt 30 Pf. und am Montag früh war noch etwas übrig!

21 Tage Fronturlaub in Stargard

Wir lagen in einem Dorf vor Woronesch als eines Tages unser Hauptwachtmeister mich auf der Straße ansprach: "Lenz, kommen sie nachher zur Schreibstube und bringen sie ihr Soldbuch mit!"
Ich erschien also auf der Schreibstube, gebe mein Soldbuch ab, womit der Hauptwachtmeister zum Batteriechef ging. Als er wieder herauskam, drückte er einen Stempel in das Buch, gab es mir wieder mit der Bemerkung: "Der Chef hat sie soeben zum Gefreiten befördert! Packen sie ihre Sachen, sie fahren nach Königgrätz/Tschechoslowakei zum Lehrgang" Eine Woche vor Weihnachten war der Lehrgang beendet. Wir bekamen einen Urlaubsschein für 21 Tage Fronturlaub.

1 1/2 Jahre war ich Soldat und dieses war mein erster Urlaub. Des Nachts kam ich in Stargard an, alles schlief und ich kletterte über die Mauer, denn ich hatte keinen Schlüssel für die Haustür Lehmannstraße 2.

Meine Eltern freuten sich sehr! Ich konnte natürlich nicht schlafen und ging deshalb früh aus dem Haus in die Stadt, Bekannte zu treffen. Ich traf jede Menge die auch Urlaub hatten. Panzerleute, Infantristen, Flieger und Matrosen. Es ging ins Stadttheater um Wiedersehen zu feiern. Ich musste die Zeche bezahlen, dafür hatte ich frei saufen bis Urlaubsende, denn jeden Tag kamen neue oder fuhren wieder an die Front.

Eines Tages bekam das Stadttheater Nachschub an Bier. Die Fässer wurden mit einem Wagen, der mit 2 kräftigen Pferden bespannt war, angeliefert. Während der Kutscher die Fässer im Keller verstaute, kam ein Matrose auf die Idee eine „Hafenrundfahrt" zu machen. „Alle mitkommen". Draußen sagte er: „Alle aufsteigen" worauf sich jeder auf ein Fass setzte. Er kletterte auf den Kutschbock und schon ging die Fahrt am Kino Germania vorbei zum Markt. Da auf dem Wagen ein großes Hallo herrschte, blieben die Leute stehen und sahen dem Spektakel zu. Offiziere, die uns erblickten, machten sich aus den Staub, denn sich mit einer Horde besoffener Landser, die zudem noch Fronturlaub hatten, anzulegen, war nicht ratsam.

Nachdem wir eine Runde über den Markt gedreht hatten, die Germania war damals schon im Goethepark aufgestellt worden, sonst hätten wir sie wohl wahrscheinlich umgefahren, gings wieder zurück. Der Kutscher war froh sein Gefährt heil wieder zu haben. Wir aber gingen ins Stadttheater zurück, denn da gab es nun frisches Bier vom Fass.

So ging mein Urlaub zu Ende. Ich feierte Abschied bis zum Morgen. Das Geld war alle und ich war voll! So kam es, dass ich statt den Zug nach Berlin in den Zug nach Schneidemühl stieg. Als ich den Irrtum bemerkte, war es zu spät. Da aber viele Wege nach Rom führen, kam ich doch noch bei meiner Einheit in Stalinow/Russland an. Den nächsten Urlaub bekam ich aus dem Lazarett aus Linz/Rhein.

Erinnerungen

Ich habe 19 Jahre in Stargard gewohnt. Da hier die Kindheits- und Jugendzeit war, haben wir Stargard so gründlich kennengelernt, weil wir überall herumgekrochen sind. Auch unsere Bekanntschaften wohnten in den entlegensten Winkeln und so kamen wir auch in diese, da wir sie abends nach Hause bringen mussten.

Werner Lenz Freunde

Jetzt, über 60 Jahre danach, hat man die Namen der Straßen vergessen. Wenn man Geschichten schreibt, muss man schon richtige Angaben machen, - aber woher nehmen? Im Jahre 2008 hat Jürgen Willbarth im Stargarder Jahresblatt alle Straßen und deren Bewohner (Kaufleute, Handwerker u.s.w.) angefangen naturgetreu aufzuzeichnen. Ich kann mich jetzt wieder erinnern und manche Geschichte fällt mir ein. Z.B. Goethepark - Rotes Meer - Nachtigallensteig - Freibad - Bootsverleih an der Ihna -Stadtwald usw.

Auch andere Stargarder Leser, die Jüngeren erinnern sich wie ich an manches, wie sie mir sagten. Die Christus-Kirche, an der ich immer vorbei musste, wenn ich in die Stadt ging oder zurück, hatte ich total übersehen.

Viele Fotos bringen Erinnerungen — Wehmut — Traurigkeit — Nachdenklichkeit — Sehnsucht und tiefe Dankbarkeit, dass ich meine Jugendzeit noch bis 19 Jahre in Frieden erleben durfte. Die Stargarder Jahresblätter, die von Anfang an Jahr für Jahr an Stärke und Format zugenommen haben, lassen desgleichen suchen! Weiter so.

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