Stargard in Pommern plante zwei Straßenbahnlinien
Der Traum von der Straßenbahn
Die Geschichte sollte rot und blau geschrieben werden. Linie zum Madüsee zu teuer
Anfang des XX. Jahrhunderts war Stargard i.P. eine gut funktionierende Stadt mit einer modernen technischen Infrastruktur. Die Bürger gewöhnten sich an die Vorteile der gut organisierten Kommunalwirtschaft. Die Stadt, die im Jahre 1915 etwa 28.000 Einwohner zählte, verfügte über Wasser- und Elektrizitätswerke, ein Gaswerk und eine Kläranlage. Die Stadtväter befassten sich mit der demografischen Entwicklung der Stadt und dem damit zusammenhängenden öffentlichen Verkehr.
Historische Straßenbahn um die Jahrhundertwende
Segen für die Städte
Stargard war zwar mit der Bahn gut erreichbar, aber der Verkehr innerhalb der Stadt wurde ausschließlich mit Droschken bewerkstelligt. Viele davon standen vor dem Bahnhof, die Fahrt durch die Stadt war allerdings nicht billig. Deshalb suchte man nach preiswerteren Lösungen. Dies wurde umso wichtiger, als Stargard ein wichtiger Bahnknotenpunkt geworden war.
In vielen europäischen Städten jener Zeit wurde das Straßenbahnnetz ausgebaut. Die meisten Straßenbahnnetze wurden noch vor 1914 angelegt. Sie lösten effektiv Verkehrsprobleme, indem sie entfernte Ziele miteinander verbanden. Von Anfang an wurde angenommen, dass der damalige Stargarder „ÖV“ eine stadteigene Firma sein wird. Man hat deswegen auf die Suche nach einem Privatinvestor verzichtet, obwohl die privatfinanzierten Projekte zeittypisch waren und in vielen Städten mit Erfolg zur Anwendung kamen. Der Entwurf sah zwei Straßenbahnstrecken vor: die blaue und die rote. In Erwägung wurde noch die dritte Verbindung nach Madüsee gezogen.
Der Hauptbahnhof - Anfangsstation der Roten Linie
Die farbliche Markierung der einzelnen Strecken war keine Idee aus Stargard. In vielen Städten verwendete man die Farben zum Kennzeichen der Straßenbahnlinien, bevor man in den 1920er Jahren auf die Zahlen umgestiegen war. So war es beispielsweise in Stettin und Landsberg a. Warthe. In den erwähnten Städten wurden die einzelnen Straßenbahnlinien an den Informationstafeln und Lichtern, deren Farbe der der gegebenen Linie entsprach, erkannt. Abends dürfte das besonders stimmungsvoll gewirkt haben…
Am Anfang war das Pferd
Als erstes gab es die Pferdebahnen, die allerdings seit Anfang des XX. Jahrhunderts durch die wirtschaftlich günstigeren, elektrisch getriebenen Wagen verdrängt wurden. Seit 1911 begann der Stargarder Magistrat einen intensiven Briefwechsel zum Bau der elektrischen Straßenbahn in der Stadt.
Zwischen Walltor und Luisenstraße - Endstation der Roten Linie
Eine wichtige Frage war dabei die Anbindung der Linien an die Bahnhöfe. Es ist also kein Zufall, dass alle geplanten Straßenbahnlinien in Stargard an einem Bahnhof beginnen sollten: die eine vor dem Hauptbahnhof, die andere am Kleinbahnhof. Von besonderem Interesse waren natürlich die Baukosten des Schienennetzes und des Depots sowie die Kosten für den Fuhrpark. Die Anfragen nach den Erfahrungen mit dem Betrieb der Straßenbahnnetze wurden nach Eberswalde, Stolp, Allenstein und Landsberg a.Warthe geschickt. Auf der Seite der Stadtverwaltung wurde die Sache durch eine Kommission bearbeitet, zu deren Aufgaben auch die Aufsichtsführung über die Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerken gehörte. Vermutlich aus diesem Grunde wurde dem Direktor der Werke für Kommunalwirtschaft (wir nennen das heute Stadtwerke) die Untersuchung aller Aspekte zum Bau des Straßenbahnnetzes in Stargard übertragen. Am 10. Juni 1911 fand eine Besprechung statt, auf der er Vor- und Nachteile des von der Firma Siemens – Schuckert ausgearbeiteten Plans eingehend schilderte.
Das Geldzählen begann
Die Untersuchung wurde durch die Stargarder Druckerei Heilandt veröffentlicht. In seiner Untersuchung legte Ehlert dem Magistrat die zu erwartenden Kosten dar, wobei er sich auf die Erfahrungen anderer deutscher Städte vergleichbarer Größe stützte (25000 bis 32000 Einwohner). Neben der detaillierten Auseinandersetzung mit der Kostenfrage wurden in der Veröffentlichung auch andere Probleme, die mit dem Bau des Straßenbahnnetzes in Stargard verbunden wären, besprochen.
Am wichtigsten waren das Stockkapital und die zu erwartenden Betriebskosten der Straßenbahnanstalt. Notwendig wäre der Bau eines Depots und dessen Ausstattung mit Maschinen und Geräten. Die Baukosten der „Straßenbahnzentrale“ wurden mit 4 Tausend Reichsmark veranschlagt. Die Kosten für Maschinen (Dampfkessel und –turbinen) überschritten glatt 100 Tausend Reichsmark. Hinzu kämen noch Betriebskosten für Strom, Wasser, Kohle usw.
Am Bahnhof der Saatziger Kleinbahn - Anfangsstation der Blauen Linie
Geplant waren zwei Straßenbahnlinien, die bunte Namen erhalten sollten: rot und blau. Die erste (rote) war knapp zwei Kilometer lang und verband den Bahnhof mit dem Luisenplatz. Die zweite (blaue) war erheblich länger (über 2,7 km) und begann bei dem Schlachthof (Kleinbahnhof), um am Neuen Tor kurz vor der Zartziger Straße zu enden. Man dachte an den Kauf von sieben Waggons: je drei für eine Linie und ein Ersatzwaggon. Letzten Endes wurden die Gesamtkosten mit 335 Tausend Reichsmark veranschlagt.
Ein bedeutender Kostenfaktor war der Bau des Schienennetzes. Ein Kilometer sollte 28.500 Reichsmark kosten. Zum Vergleich wurden die Kosten in anderen Städten geprüft, wo sie zwischen 24.000 und 28.000 Reichsmark pendelten. Insgesamt sollte das Netz knapp 5 Kilometer lang sein. Die Straßenbahnnetze in den vergleichbaren Städten waren überwiegend ähnlich lang.
Rote LinieVom Hauptbahnhof bis zum Luisenplatz
Die rote Linie (Hauptbahnhof-Luisenplatz) sollte den Bahnhof mit dem Luisenplatz in der Nähe des Walltors verbinden. Anfangen sollte sie gegenüber dem Bahnhof in der Barnimstraße und dann über die Bahnhofstraße, den Gerichtsplatz, die Johannisstraße, die Breitestraße und die Holzmarktstraße weiterführen. Im weiteren Verlauf sollte sie durch die Radestraße zum Markt über die Kramerstraße, die Große Mühlenstraße, an der Katholischen Kirche vorbei auf das Walltor hinführen. Die Endstation sollte der Luisenplatz sein. Die Streckenlänge betrug 1,964 km.
Blaue Linie Schlachthof - Neues Tor
Die blaue Straßenbahnlinie (Schlachthof-Neues Tor) begann zwischen dem Schlachthof und dem Kleinbahnhof und verlief weiter durch die Schröderstraße, die Jobststraße, den Gerichtsplatz, die Jobststraße (später umbenannt in die Hindenburgstraße), die Ihnastraße, die Königstraße, die Poststraße, an der Süd- und Ostseite des Marktes, dann über die Kramerstraße und die Große Mühlenstraße zum Neuen Tor an der Ihna. Die Gesamtlänge betrug 2,71 km.
Das Neue Tor - Endstation der Blauen Linie
Neben der roten und der blauen Linie tritt auf dem Netzplan noch eine dritte Strecke in Erscheinung: die grüne. Sie war eine etwas veränderte Rückfahrtstrecke der blauen Linie und führte vom Neuen Tor durch die Königstraße, die Poststraße bis in die Radestraße. Von da an blieb sie bis zum Gerichtsplatz der roten Linie auf der Spur. Vom Gerichtsplatz an führte sie auf der Streckenführung der blauen Linie bis zum Schlachthof.
Ins Depot
Ein Nachteil dieses Entwurfs war die Ausklammerung vieler Straßen – nicht angeschlossen waren die Friedrichstraße, der Neue Friedhof und viele andere. Man muss allerdings bedenken, dass die Stadt damals viel kleiner war und die Bebauung entlang der Stettiner Straße erst vor kurzem in Angriff genommen wurde.
Alle Straßenbahnstrecken kreuzten auf dem Gerichtsplatz. Von dort an führte über die Bahnhofstraße die kürzeste Strecke ins Depot, das in der Barnimstraße gebaut werden sollte. Diese Lage ergab sich durch die nahegelegene Elektrizitätszentrale.
Gerichtsplatz - Treffpunkt der beiden Linien und zentrale Umsteigestation
Zeichen der Modernität
Das Straßenbahnnetz war sicher ein Hinweis auf die moderne Stadtentwicklung sowie die Offenheit und die Fortschrittsfreude der Stadtväter. Überall funktionierte die Straßenbahn nach dem gleichen Prinzip, darüber entschieden technische Möglichkeiten. Aber jede Stadt bestellte ihre eigenen Waggons – daher Unterschiede in Abmaßen und im Aussehen. Straßenbahnwaggons fassten in der Regel 25 bis 30 Fahrgäste (für Stargard wurden 20 Fahrgäste pro Waggon angenommen), davon rund die Hälfte Stehplätze. Die Konstruktionen wurden ausgeführt als Holzbau mit offenen Einstiegsplattformen und gleichen Vorder- und Hinterteilen, so dass ein Fahrtrichtungswechsel denkbar einfach war – der Straßenbahnführer brauchte nur den Führerstand zu wechseln. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag bei etwa 12-16 km/h.
Von sechs bis zehn
Der Fahrplan der Stargarder Straßenbahn sollte durch die Jahreszeit, Tageszeit und den Tag (Werktag/Feiertag) bedingt sein. Im Sommer sollten beide Linien von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends verkehren. An Feiertagen sollten sie sogar eine Stunde länger betrieben werden. Im Winter sollten beide Linien von sieben Uhr morgens bis zehn bzw. elf Uhr (Feiertage) abends im Betrieb sein. Die Straßenbahnen auf der roten und der blauen Strecke sollten in 15- oder 12-Minuten-Takt pendeln. Das ermöglichte, mit einem Waggonsatz (bestehend aus je drei Waggons) 4 bzw. 5 volle Rundfahrten in einer Stunde zu machen.
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Nach Madüsee zu weit
Schon in der Anfangsphase wurde die Strecke nach Madüsee aufgegeben. Die verhältnismäßig große Entfernung, die sich negativ prägend auf die Kosten übertrug, bremste die größten Optimisten. Der Gedanke aber ist bemerkenswert. Eine direkte Verbindung mit der Stadt hätte die Entwicklung des Strandbades sicherlich positiv beeinflusst und noch mehr Stargardern eine schöne Erholungsstätte erschlossen.
Leider, die kommenden drei Jahre brachten Verzögerungen bei der Annahme des Planes zum Bau der Straßenbahnlinien in Stargard. Wir wissen nicht, warum er immer wieder keine Genehmigung bekam, obwohl das Interesse an dem Projekt enorm war. Der Ausbruch des I.Weltkrieges machte dem Vorhaben ein jähes Ende. Nach dem Krieg – ähnlich wie heute – wurde Der Traum von der Straßenbahn endgültig aufgegeben.
Quellennachweis:
Autorin : Jolanta Aniszewska
Erschienen in 2 Teilen am: 16. und 23.08.2002
in polnischer Sprache in der Zeitung „Glos Stargardzki“ („Stargarder
Stimme“)
Ins Deutsche übersetzt, überarbeitet und mit Bildern versehen
: Piotr Nycz und Erhard Grünbauer
Weitere Überarbeitung und Zeichnung des Streckenplans: Jürgen
Willbarth
Den Artikel können Sie hier im PDF-Format (8 Seiten) drucken.
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