Turmbeobachter

Horst Beckmann
verstorben am 9.6.2013
Stargarder Jahresblatt 2007

Vor 11 Jahren erreichte mich die Nachricht, das der Stargarder Kaufmann Günther Eilenfeld im 92. Lebensjahr verstorben ist. Er hatte sein Lebensmittelgeschäft in der Poststraße und war sicher vielen Stargardern bekannt. Durch seinen Tod wurden alte Erinnerungen wach.

Marienkirche Turmbeobachtung Erich Beckmann Marienkirche Turmbeobachtung Horst Beckmann

Erich Beckmann und Horst Beckmann

Günther Eilenfeld und mein Vater Erich Beckmann waren nicht nur Geschäftsfreunde, sondern hatten während des Krieges eine besondere Aufgabe. Sicher wurde sie in anderen deutschen Städten genauso wahrgenommen, aber nur wenigen Stargarder Bürgern wird sie bekannt gewesen sein. Vom Luftschutzbund wurden diese Männer verpflichtet, jeweils bei Fliegeralarm den Turm der Marienkirche zu besteigen, um den Anflug feindlicher Flugzeuge und Luftangriffe im Raum um Stargard bis nach Stettin zu beobachten. Dieser Einsatz war mit vielen Strapazen verbunden. Berichten kann ich darüber, weil ich so manches Mal meinen Vater begleitet habe, besonders wenn Günther Eilenfeld verhindert war. Einen offiziellen dritten Vertreter gab es nicht. So hat Vater oft auch allein den Turm bestiegen, oder auch Kaufmann Eilenfeld. Die Männer waren dafür gut ausgerüstet. Warme Kleidung, Pelzmützen mit Ohrenschützern waren besonders im Winter angebracht, zumal auf dem Ausblickplatz im Holzaufbau des Turmes ein schärferer Wind wehte als auf der Straße zwischen den Häuserreihen.

Marienkirche

Marienkirche - links unten: an der Marienkirche 2 das Geburtshaus von Horst Beckmann

Gute Ferngläser gehörten selbstverständlich dazu. Vater hatte ein scharfes Fernrohr, mit dem er den weiten Raum über Stettin im Blick hatte. Auf dem Turm befand sich ein Telefon mit einem Anschluss zur Polizeiwache im Rathaus. Jede auffällige Wahrnehmung musste sofort der Polizei gemeldet werden, damit im Notfall Feuerwehreinsatzwagen und Hilfstruppen schnell zur Stelle sein konnten. Natürlich kam es auch vor, dass man von schweren Gewittern überrascht wurde, was in schwindelnder Höhe nicht besonders angenehm war.

Die Turmbeobachter - so nannten sie sich - versahen nicht nur während des Fliegeralarms ihren Dienst. Die Meldung erreichte die Männer telefonisch von der Polizeiwache aus, lange Zeit bevor in der Stadt Voralarm gegeben wurde. In Erinnerung habe ich den Anruf: „Feindlicher Einflug über Braunschweig gemeldet". Dann musste sich Vater sofort anziehen und das Haus verlassen. Die notwendigen Gebrauchsutensilien lagen für den Einsatz immer am Bett bereit.

Als ich die ersten Male die Turmbeobachter begleiten durfte, war mir eigenartig zumute. Für mich als unerfahrenem Jungen war ein solcher „Dienst" wie ein Fronteinsatz, da ich befürchtete, dass uns eine Bombe oder das Maschinengewehrfeuer der feindlichen Maschinen gezielt treffen könnte. Den Kirchenschlüssel für die Tür an der Nordseite der Kirche hatte Vater immer zu Hause. Das ist die Kirchentür in der kleinen Gasse, die an der Kirche entlang den Marktplatz mit dem Fleischmarkt verbindet. Man benutzte dann den nördlichen Turmaufgang. (Beim gegenüberliegenden Aufgang kommt man nur bis zur Orgelempore.) Der gesamte Aufstieg dauert normalerweise 20 Minuten; der Abstieg auch.

Blick von der Marienkirche

Blick von der Marienkirche auf die Johanniskirche

Zunächst führte eine enge Steinwendeltreppe in den Turm bis zur Höhe des mittleren Kirchengewölbes. Das waren etwa 35 Meter. (Die Marienkirche hat das dritthöchste Gewölbe norddeutscher Kirchen nach dem Königsberger Dom und der Lübecker Marienkirche.) Wenn der Turm dann als viereckiger Backsteinbau aus dem Kirchengebäude herausragt, wird die Wendeltreppe durch normale Holztreppen abgelöst, die von Podest zu Podest führen, bis dann in dem schlanken sechskantigen Turmaufbau normale Leitern zu dem Ausblick über der Uhr führen. Eine schwere Luke muss hochgedrückt werden, um die Plattform des Ausblicks zu erreichen.

Nicht so angenehm, ja gruselig, war es für mich in der ersten Zeit, wenn wir nachts Fledermäuse oder Eulen aufscheuchten, die uns dann um den Kopf herumflogen. Erschreckt habe ich mich, als ich das erste Mal das Anschlagen der Uhr vernahm - ein unbeschreibliches Geräusch. Daran musste man sich auf dem Turm erst gewöhnen.

Ein nächtlicher Turmeinsatz konnte mitunter Stunden dauern, denn wenn die Stargarder Bürger bereits Entwarnung bekommen hatten, mussten die „Turmmänner" weiterhin die Beobachtung wahrnehmen, bis sie abgerufen wurden. Es konnte sein, dass bereits eine neue Anflugwelle gemeldet war. Für die Bewohner die schon wieder in den Betten lagen, bedeutete das ein zweiter Alarm, wie es die Älteren unter uns noch in Erinnerung haben werden.

Blick von der Marienkirche"

Blick von der Marienkirche

Schaurigschön faszinierend waren die von den Feindflugzeugen über Stettin gesetzten „Christbäume", die den ganzen Horizont erleuchteten. Ein festlichfeierlicher Anblick könnte man meinen, ein unvorstellbar riesiges Feuerwerk über einer großen Stadt. Aber das währte nur kurze Zeit. Dann spiegelten sich am Himmel die Feuer der Einschläge der ersten Bomben. Wiederholt hatten die Bomberverbände die Hydrierwerke in Stettin-Pölitz als Ziel — oder auch den Stettiner Hafen. Für uns heute kaum noch vorstellbar, wie sich Menschen für derartige Zerstörungen hergeben konnten.

Nicht selten kam es vor, dass die beiden Luftschutzmänner - und als ich älter war, bin ich oft mitgegangen - nachts zweimal ihren Posten einnehmen mussten. Das bedeutete dann in der Nacht viermal 20 Minuten Auf- und Abstieg. Natürlich musste Vater am nächsten Morgen um 6.30 Uhr wieder in seinem Betrieb sein. Es waren schon grosse Anforderungen, die der Luftschutz an die Turmbeobachter stellte. Und die Luftangriffe nahmen im Laufe des Krieges bekanntlich zu.

Als ich 1946 als Soldat aus der Gefangenschaft zu meinen Eltern in die Flüchtlingsheimat kam, erzählte Vater, dass er, als die Stadt schon von den Bürgern geräumt war, weiterhin die Turmbeobachtung wahrnehmen musste. Oft war es auch am Tage.

Einmal wollte er in die Kirche, als vor der Kirchentür ein großer Bombenblindgänger lag, so dass er über ihn hätte hinwegsteigen müssen. Er sei dann zur Polizeiwache gegangen und habe gemeldet, dass der Kircheneingang durch einen Blindgänger nicht zugänglich sei. „Sehen sie zu, wie sie in die Kirche kommen" bekam er den Befehl. Als er dann noch einmal klarzumachen versuchte, dass es nicht möglich sei, sei ein Polizist mit durchgeladener Pistole mitgegangen, habe sich dann abseits gestellt und meinem Vater befohlen, über den Blindgänger hinwegzusteigen, wenn er nicht wegen Befehlsverweigerung erschossen werden wolle.

Das sei dann auch der letzte Turmeinsatz gewesen, so berichtete Vater. Am nächsten Tag ging auch die Polizei auf die Flucht. Eine Auszeichnung haben die beiden Turmwächter nie bekommen, aber ihr Leben wurde ihnen über den Krieg hinaus erhalten und das war ihnen sicher mehr wert.

2007 während des Stargardtreffens haben auch Jürgen Willbarth, Manfred Ueckert und Dieter Krahn den Turm der Marienkirche erstiegen. So sind die letzten beiden Bilder entstanden.

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