Der Gefangenenturm

Joachim Stampa
Stargard in Pommern
Stadt der Tore und Türme, 1975

Neben den anderen Türmen, die die Stargarder Stadtmauer zieren und einst verstärkten, nimmt sich der Gefangenenturm mehr als bescheiden aus. Er ist bei weitem der kleinste. unscheinbarste, am wenigsten gegliederte. Und doch war er recht bekannt, bekannter wohl als der Weißkopf, dank seiner Lage am Ihnaufer am Weidensteig. inmitten der Gärten, die die Anwohner im Vorland außerhalb der Stadtmauer und innerhalb des Ihnalaufes angelegt hatten und zwischen den zwar weniger schönen, aber als Kulissen und Versatzstücke durchaus passablen Wohnhäusern und vor der gewaltigen Marienkirche im Hintergrund war er der Mittelpunkt eines lieblichen als trutzigen Gemäldes romantischer Vergangenheit.

Das Kriegsende hat dem Gefangenenturm den verdeckenden Schurz der umgebenden Häuser und Häuschen fortgerissen, und nun steht er kahl und frierend in der fremd gewordenen Landschaft, als ob man ihn, den alten Ritter, vor aller Augen ausgezogen hätte und nun nackt in der Straße stehen ließe.

Gefangenenturm

Der Gefangenenturm gehörte einst zu der Stelle in der Stadt, um die Alt und Jung, Arm und Reich einen weiten Bogen machten, zum Bereich des Henkers und seiner Knechte, zum Tolz. An der Innenseite der Stadtmauer war gleich neben dem Gefangenenturm eine Reihe von ein- oder zwei ­geschossigen Häusern angebaut worden mit Zellen für Gefangene, Folterstätte und den Wohnungen für das dazugehörige Personal. Auch der Gefangenenturm ist in seinen mehreren Geschossen mit Zellen ausgebaut gewesen. Mir liegt ein Brief aus diesen Tagen vor, den mir eine junge Frau geschrieben hat, die in diesen ehemaligen Tolz-Gebäuden aufgewachsen ist und in den Zellen und anderen Räumlichkeiten unbefangen gespielt hat, ohne eine Ahnung von der düsteren Geschichte dieser Häuser zu haben. Hier sind seit der der Übertragung der Hand- und Halsgerichtsbarkeit an Stargard durch Herzog Bogislaw VII. im Jahre 1409 bis zum Verbot der Folter durch König Friedrich den Großen von Preußen bei seiner Thronbesteigung im Jahre 1740 unzählige Menschen gemartert und unzählige (falsche) Geständnisse erpresst worden. Auffällig ist hier die unmittelbare Nachbarschaft des Tolz mit dem Großen und Kleinen Chorhof und anderen kirchlichen Einrichtungen.

Die Abbildung von Joachim Stampa zeigt den Zustand des Gefangenenturmes im Mittelalter. Erst am 30. Dezember 1885 änderte sich das Aussehen: der Turm brannte aus. Seit dieser Zeit ist er hohl und leer. Vorher also hat er ein mäßig hohes Kegeldach getragen.

Der völlig schmucklose Turm war beiderseitig mit der Stadtmauer vereinigt, die radial mit ihm verbunden war. in etwa 3m Höhe, in welcher hier der Wehrgang auf der Stadtseite die Mauer entlang lief, hatte er einen sehr breiten Eingang, der nur noch an den anderen Steinen zu erkennen ist, denn er wurde zugemauert. Diese Mauernarbe hat außen eine Breite von 2, innen aber nur von 1m. Diese Reduzierung um 50% bei einer Mauerstärke von nur 1,32m ist mir unerklärlich. Ich nehme an, dass außen eine Nische vorgeschaltet war, auf welche der Wehrgang mündete und das die eigentliche Türöffnung allgemein nur 1m breit gewesen ist. Da es sich Jahrhunderte lang um das städtische Gefängnis gehandelt hat, ist auch nicht auszuschließen, das zwei Türen hintereinander gelegen haben.

In den fünf Geschossen waren damals Zellen eingerichtet, in denen die Gefangenen an Ringen, die in die Wand eingemauert waren, angekettet wurden. Trotzdem war der Gefangenenturm nicht ausbruchsicher, denn mehrere Verbrecher, die mit Recht um ihren Hals fürchteten, sind aus ihm entkommen, und zwar durchs Dach. Die Halunken nahmen ein paar Ziegel von den Dachlatten, krochen durch die Öffnung und ließen sich außen irgendwie hinab.

Die fünf Geschosse des Innenausbaus sind jeweils rund drei Meter hoch. Sie werden nach oben im Durchmesser immer ein wenig größer, da die Außenmauer mit jedem Stockwerk schwächer wurde, um Auflage für die Balken der Zwischendecken zu erhalten. Nicht alle Geschosse wiesen Fensteröffnungen auf, einige waren völlig finster. Die schmalen hohen Scharten sind ohne erkennbares System angebracht. Alle Stockwerke sind völlig kreisrund und stehen übereinander wie ein Satz riesiger Kochtöpfe.

Im 19. Jahrhundert ist der Turm als Lager- und Vorratsraum benutzt worden. Damals wurde in das unterste Geschoss eine neue Eingangstür gebrochen, des bequemeren Zugangs wegen. Mindestens einmal vor 1885 war der Turm schon früher abgebrannt, nämlich bei dem Großbrand des 30jährigen Krieges. Vorher wird er wie die anderen Türme auch schon einen Kegelhut getragen haben und da er als Gefangenenturm nicht entbehrlich war, wurde er hinterher auch prompt wieder instandgesetzt, mit Zwischendecken und Turmhelm versehen. Im Laufe der Zeit hatten sich die Mittel der Strafjustiz aber geändert: 1750 wurde das ehemalige Zeughaus als Gefängnis hergerichtet, 1844 kam das Landgericht nach Stargard, 1866 das Kreisgericht, und 1867 brach man die Jobst-Kapelle ab und errichtete an dieser Stelle das Gerichts-Gefängnis. So war seit langem für den Gefangenenturm keine Verwendung mehr und das öffentliche Interesse erlosch. Nach dem Feuer von 1885 vorgelegten Pläne zur Wiederherstellung des Kegeldaches kamen nicht mehr zur Ausführung. Stattdesen wurde ein flaches Pappdach aufgesetzt um den Regen abzuleiten und der Zinnenkranz wurde auf den oberen Rand gemauert.

Es hätte nicht viel gefehlt und der ganze Turm wäre abgebrochen worden. Bekanntlich stand dieser zu einer Hälfte im Vorgelände und zur anderen in der Südmauerstraße, diese recht erheblich verengend. Nun wollte der Besitzer des angrenzenden Grundstücks sein Haus neu bauen und erweitern. Dazu stand ihm der Turm im Wege. Kurz entschlossen stellte er an den  Magistrat den Antrag, den Turm abreißen zu dürfen. Der Magistrat genehmigte den Antrag, aber er kam nicht zur Ausführung. 1890 beschlossen Magistrat und Stadtverordnetenversammlung von sich aus den Turm abreißen zu lassen, da die Südmauerstraße verbreitert werden sollte. Aber inzwischen war die Dienststelle der kgl. Regierung in Stettin aufgewacht. Der Turm musste erhalten bleiben und auch ein neues Dach bekommen. 1891 wurden dafür die Kosten vom Magistrat bewilligt, 180 Mark, und durch den neuen Zinnenkranz erhielt der Turm wieder einen einigermaßen anständigen Abschluss. Inzwischen sind nun wieder zwei Kriege darüber hingegangen und der Gefangenenturm steht immer noch, trägt immer noch die Zinnen. Wie auch an anderen Stellen, hat die polnische Verwaltung auch hier alle umliegenden Privatgebäude niedergelegt, in Unkenntnis der Dinge auch den alten Tolz. Stehen geblieben ist eine Ruinenlandschaft, die die alten Stargarder voller Wehmut betrachten. Die Polen nennen den Gefangenenturm „Baszta Jericöw".

Die folgenden Bilder zeigen die heutige Situation ( 2017 ) mit dem Gefangenenturm und der Tolz.
Fotos: Erhard Grünbauer

Gefangenenturm

Gefangenenturm

Gefangenenturm

Gefangenenturm

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