Hoch türmen sich die Massen des im Jahre 1513 erbauten Roten Meeres in Stargard, der an mittelalterlichen Denkmälern reichsten Stadt Mittelpommerns. War sie mit dem ländergürtenden Meere auch nur durch einen Fluss verbunden, der kleinere Lastschiffe trug, so zeichnete sie sich doch durch rege Betriebsamkeit und trefflichen Getreideboden aus, so dass sie Stettin nicht viel nachgab. Die Macht der Stadt spiegelte auch das hier vorgeführte Bauwerk wider.
Lebhaft war der Gegensatz der einzelnen gut abgewogenen Körper. Derb lagerte der Unterbau auf geviertförmiger Grundfläche, indem die fünf Meter über dem Fußboden angebrachte Einsteigetür mit zwei, wohl zur Befestigung einer kleinen Plattform bestimmten Aussparungen, noch erhalten war. Sie schlug nach außen auf, so dass sie dem etwa bis zur Plattform vorgedrungenen Feind gegen sich hin zu öffnen gezwungen war. Wehrhafte Kraft verkündete sich im mittleren zylindrischen Abschnitt, der wie so viele Bauten des preußischen Ordens durch Rautennetz schwarz glasierter Ziegel gegürtet ist, jener sich aus der Eigenart des Backsteins so naturgemäß ergebenen Schmuckform. Der Umgang über dem knapp ausladenden Hauptgesims war zur Fernverteidigung bestimmt, deshalb ohne Zinnen, die in dieser Höhe kaum noch erforderlich waren. Ein achtseitiges, oben schwer gehaltenes Prisma bildete einen geschickten Übergang und weitere Abwechslung. Die obere Plattform gewährte herrlichen Ausblick auf die mit freundlichen Laubbäumen bepflanzten alten Wälle, die Stadt selbst und weiterhin das fruchtbare Ihnatal mit den flach säumenden Höhenzügen und fernen Wäldern ein rechter „Lug ins Land", so schreibt Lutsch über Stargards schönsten Turm. Nicht nur ein „Lug ins Land" ist er, sondern ein „Kleinod unter den Mauertürmen", von Ernst Richard in „Heimatblätter" nachzulesen.
Ein wundervoller Anblick bot sich dem Beschauer dar, der die Hauptgeschäftsstraße unserer Heimatstadt, der Holzmarktstraße, hoch zu den Anlagen ging. Da stand der prächtigste und wohl auch schönste der mittelalterlichen Türme am Ende der Straße, diese gleichfalls abschließend. Aber soeben noch in der wohl verkehrsreichsten Straße der Stadt, fand das Auge ein paar Schritte weiter Ruhe und Erholung. So fand der Turm gleichsam den Übergang zwischen modernem Geschäfts- und Verkehrsleben und freudig blühendem und auch sprühendem Leben der Natur.
Das Rote Meer war erst später als Stargards andere Türme errichtet worden. Noch beim Bau der zweiten Mauer um das Jahr 1400 stand an seiner Stelle ein einfaches Wykhaus. Als letzter und zugleich stattlichster Turm, bei dessen Bau man sicherlich die Erfahrung aus der Errichtung der übrigen Türme verwertete, wurde dieser 1513 errichtet. Er war also 33 Jahre jünger als sein um 1480 errichteter „Zwilling", der Eisturm, dessen Abbild man ihn fast nennen könnte. Eigentümlich und speziell war vieles an diesem höchsten Stargarder Turm, was schon bei dem Namen „Rote-Meer-Turm" anfing. Aus Mangel an Unterlagen war eine aus Tatsachen begründete Aufklärung leider nicht zu erbringen. Es hielt sich in einigen neueren Unterlagen so manches Gerücht, dass der Volksmund sich mit einer Version nicht zufrieden gab. Die in früheren Beschreibungen, auch von Prof. Dr. 0. Knoop in „Sagen, Überlieferungen und Geschichten aus Stargard" geförderte Version der blutigen Schlacht um ca. 1630 zwischen den Kaiserlichen und den Schweden, in der bei sehr großen Verlusten an Toten und Verwundeten das Blut in Strömen floss und man vor dem Turm durch ein Meer von Blut, daher Rotes Meer, waten musste, ist nicht belegt worden. Wenn dem so gewesen wäre, hätte Micraelis bei seiner Beschreibung sicherlich auf die Entstehung des Namens hingewiesen. Neuere Nachforschungen ergaben aber, dass schon 1630 in den Berichten der damaligen Zeitgenossen, die diesen Kampf behandelten, vom „roth Meere" diese Örtlichkeit beschrieben wurde.
Es gab noch mehr Versionen, ähnlich wie die der Bedeutung der Ketten an den Mühlentortürmen, der Namensgebungsursachen. Die auch vom Chronisten favorisierte einleuchtendste Erklärung ist folgende: Als in Stargard der Turm errichtet wurde, befand sich in seiner unmittelbaren Umgebung, vielleicht auf dem damals noch nicht bebauten Stück zwischen Westmauer und der späteren Breitestraße ein Tümpel, der allgemein als rotes Meer bezeichnet wurde. (Im Mittelalter wurde das Wort Meer für ein kleines stehendes Gewässer, Tümpel oder Sumpf gebraucht. Rot nannte man ein solches Gewässer, wenn es eisenhaltig war, Pflanzenwuchs oder einen moorigen Untergrund mit rötlichem oder bräunlichem Wasser aufzuweisen hatte). Rote Gewässer befanden sich damals vielerorts.
Als nun in Stargard der Turm errichtet wurde, führte er zunächst keinen Eigennamen. Er hieß einfach „der Turm bei dem roten Meere". Als dann später der Tümpel verschwand, blieb doch der Name an dem Turm hängen. Das Innere des Turmes bildeten 7 Stockwerke, die durch Bretterböden voneinander getrennt waren. Davon lag das unterste Stockwerk noch im oberen Teil des rechteckigen Unterbaues. Die Verbindungen bestanden aus stabilen Holztreppen. Im Unterbau befanden sich einige Nebenräume, vermutlich auch Gefängniszellen. Von hier aus ging auch der 11 Meter tiefe Kellerschacht ohne Leiter oder Treppe in die Erde. Hier ließ man die Gefangenen mit hohen Lösegeldforderungen an Stricken hinunter, bis ihnen bei Wasser und Brot die Freiheit oder der Tod winkte. Namhafte Gefangene damaliger Zeit harrten in diesem Verließ auf ihre Freiheit. Nach mündlicher Überlieferung soll auch ein Mitglied derer von Borcke hier auf das Lösegeld gewartet haben. Bauliche Veränderungen in der Turmspitze fanden mehrfach statt. Die Erstausführung des Turms bestand aus einer Spitze, vermutlich als Ausguck gedacht. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Breitestraße gepflastert wurde und die Jobstvorstadt ständig wuchs, ging der Fußgängerverkehr zur Stadtmitte und zurück fast nur durch das enge Johannistor gemeinsam mit dem Fahrverkehr. Eine Pforte ähnlich der Königspforte am Eisturm sollte, so Stargards Oberbürgermeister Delsa, auch am Roten Meer geschaffen werden, aber die Stadtverordneten lehnten den Durchbruch an der Stadtmauer ab. Der neue Bürgermeister Pehlemann löste 1868 den alten Delsa ab. Die Holzmarktstraße bekam ein neues Kopfsteinpflaster, jetzt musste der Durchbruch her, und zwar nicht neben dem Turm, sondern mitten durch das Rote Meer. Auch diejenigen Stadtverordneten, die damals den Antrag ablehnten, hatten sich gewiss schon längst mit der neuen Pforte ausgesöhnt und gingen vermutlich auf Spazierwegen und Geschäftsgängen oft durch das Rote Meer, und zwar trockenen Fußes wie einst die Kinder Israels. Es gab in der ganzen Stadt keine zweite öffentliche Pforte, die sich eines so regen Verkehrs erfreute wie gerade diese viel umkämpfte. Nach der Schaffung dieses Durchbruchs im Jahre 1868 kam dann die Redensart auf:
Nur in Stargard/Pom. können die Menschen noch heute trockenen Fußes durch das Rote Meer gehen.
Seit dieser Zeit wurde das Rote Meer in keiner Weise mehr verändert und steht auch heute noch als Zeuge früherer Stargarder Wehrhaftigkeit, als Kleinod der Stadt ist und war es ihr Schmuck und Stolz zugleich.
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