Meine Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Stargard Februar-August 1945

Ich heiße Brigitte Callies und wurde am 22.12.1932 in Stettin geboren, wohnte aber bis 1945 ausschließlich in Stargard. Bis zu meinem 12. Lebensjahr lebte ich zunächst bei meinen Großeltern in der Eisenbahnstraße und ab meinem 8. Lebensjahr bei meiner Mutter, erst in der Sackgasse und danach in der Breiten Straße. Hier in Stargard verlebte ich den Verhältnissen entsprechend eine unbeschwerte Kindheit. Ich besuchte von 1939-1942 die Siedlungsschule, von 1942-1943 die Ihrlaschule und bis zur Flucht lernte ich in der Mittelschule.

Die Jahre des Krieges waren nicht einfach, aber als Kind habe ich bis zu unserer Flucht keine negativen Erinnerungen. Als der Krieg sich dem Ende zuneigte, das war Ende Februar/Anfang März 1945 (an ein genaues Datum kann ich mich nicht erinnern) gab es eines Morgens so gegen 8 oder 9 Uhr eine gewaltige Detonation, die Fensterscheiben zersplitterten und wir bekamen einen furchtbaren Schreck. Die Sirenen gingen los. Das bedeutete Fliegeralarm. Meine Mutter, Großmutter und ich machten uns fertig und liefen in den Luftschutzkeller, der sich in der damaligen Stettiner Straße befand. Meine Mutter und ich waren wegen der häufigen Fliegerangriffe zu meiner Großmutter in die Eisenbahnstraße gezogen, weil diese allein war. Mein Großvater musste in den letzten Kriegstagen noch zum Volkssturm. Im Luftschutzkeller blieben wir für eine Nacht. Für Kinder gab es Betten, so dass wir einigermaßen schlafen konnten.

Am nächsten Tag gab es für die Bevölkerung den Befehl Stargard sofort zu verlassen. Wir fuhren zunächst mit dem Zug in Viehwagen bis Stettin. Dort wurden die Flüchtlinge in einem Bunker untergebracht, weil es immer wieder Fliegeralarm gab. Von dort aus wurden wir nach Stralsund transportiert und in einer Flackkaserne untergebracht. Später bekamen meine Mutter und ich in Stralsund im Nachtigallenweg ein Zimmer bei sehr netten Leuten. Meine Großmutter kam inzwischen bei ihrer Tochter in Burg bei Magdeburg unter. Anfang Mai, als die Russen Stralsund besetzten, erhielten wir die Information, dass alle Flüchtlinge wieder zurück in ihre Heimat müssen. Also ging es wieder zurück. Dort angekommen bot sich ein Bild des Schreckens. Stargard war fast vollkommen zerstört, so auch unser Wohnhaus in der Breiten Straße, aber wir waren wieder zu Hause und wurden in einem Haus in der Wilmsstraße untergebracht. Wir glaubten immer noch daran, dass wir in Stargard bleiben können. In dieser Zeit wurden wir durch eine von Polen eingerichtete Verpflegungsstelle mit Lebensmitteln versorgt.

Eines Morgens, es war Anfang August und es regnete in Strömen, wurden wir von einigen Polen aufgefordert, Stargard sofort zu verlassen. Ohne Rücksicht auf den strömenden Regen wurden wir Deutschen regelrecht aus dem Haus vertrieben. Alle wurden nass bis auf die Haut. Mit Autos werden die Flüchtlinge zunächst nach Scheune (ein Ort in der Nähe von Stettin) gebracht. Dort übernachteten wir in einer Scheune. Hier wurde meine Mutter krank und musste einen Arzt aufsuchen. Als wir in die Scheune zurückkehrten, waren die anderen Flüchtlinge bereits weg und mit ihnen auch unser letztes Hab und Gut. Wir hatten nun nur noch das, was wir am Leib trugen. Als es uns besser ging, schickte man uns gleich wieder weiter und wir zogen Fuß oder manchmal auch streckenweise auf einem Pferdefuhrwerk über Berlin, Neustrelitz schließlich nach Waren Müritz. Das war Ende August oder Anfang September. Dort angekommen musste ich gleich wegen Unterernährung in das Krankenhaus. Ein häufiger Wechsel von Unterkünften folgte, denn in Waren wollte niemand Vertriebene aufnehmen und schon gar keine, die nichts besaßen.

In den Wirren der Nachkriegszeit fanden wir auch meine Großeltern wieder. Sie waren in einem kleinen Dorf in der Nähe von Güstrow untergekommen. Es dauerte einige Zeit bis die Neuankömmlinge akzeptiert wurden. Mit der Zeit begannen wir auch uns mit der Situation abzufinden und langsam auch wohlzufühlen, da es uns allmählich immer besser ging. In Waren habe ich eine neue Heimat gefunden, geheiratet und eine Familie gegründet. Seit 1991 wohne ich allerdings in Schönebeck an der Elbe in der Nähe meiner Tochter.

Mein Besuch in Stargard im April 2016

Mein Name ist Brigitte Callies, ich bin 83 Jahre und wohnte seit der Vertreibung aus Stargard zunächst in Waren Müritz. Seit 25 Jahren wohne ich in Schönebeck/Elbe. Seit einiger Zeit äusserte ich den Wunsch, noch einmal dorthin zu fahren, wo ich die ersten 12 Jahre meines Lebens, also meine Kindheit, verbrachte, nämlich nach Stargard. Ich hatte Stargard bereits 1978 und 2008 besucht, aber leider immer nur für 1-2 Stunden.

Um so größer war die Freude, als meine Kinder mir zu Weihnachten 2015 diese Reise nach Stargard schenkten. Sie hatten ein Appartement für 2 Übernachtungen vom 27.04. - 29.04.2016 gebucht. Sie nahmen über das Gästebuch des Heimatkreises Stargard/Pommern Kontakt auf und erhielten nach einiger Zeit eine Antwort von Herrn Grünbauer von der deutschen Minderheit in Stargard. Er bot sofort seine Hilfe bei der Durchführung dieser Reise an.

Zu meiner Überraschung - bis zu meiner Ankunft in Stargard hatte ich keine Ahnung von den Vorbereitungen dieser Reise. Am Anreisetag am 27.04.2016 erschien Herr Grünbauer und seine Frau und stellten sich als meine Stadtführer für den nächsten Tag vor. Er überließ mir auch für den Abend 2 Mappen mit jeder Menge Bildmaterialien, die ich mir den ganzen Abend mit großem Interesse anschaute. Am 28.04. trafen wir uns dann vor unserem Appartement und die Führung durch Stargard begann.

Es hat sich natürlich unheimlich viel verändert, da Stargard fast völlig zerstört war. So habe ich natürlich nicht alle Dinge gleich wieder erkannt. Jedoch durch die gut vorbereitete Stadtführung von Herrn Grünbauer, der uns an die Plätze, die ich mit meiner Kindheit verband, führte, kamen die Erinnerungen wieder. Dazu gehörten die Breite Straße, die Königstraße, die Sackgasse, das Gebäude der Post, die Holzmarktstraße, die Kirchen von Stargard, das Pyritzer Tor, die Ihna, das Gebäude in dem die Bücherei war, usw.

Bahnhofpassage

Der Wasserturm am Bahnhof, neben dem ich einige Jahre bei meinen Großeltern im Bahnwärterhaus lebte, steht immer noch. Was mich besonders freute. Besonders stolz war ich, dass ich diesen allein gefunden habe und meinen Kindern von meinen Erinnerungen erzählen konnte. Für mich unvergesslich war der Besuch der Ihnaschule, die ich von 1940 bis 1942 besuchte. Groß war die Freude, dass ich aufgrund der Initiative von Herrn Grünbauer und seiner Frau sogar in die Schule hinein durfte und die Vizedirektorin uns in deutscher Sprache durch die Schule führte. Erinnerungen wurden wach, als ich  mich in meinem Klassenraum in meine Schulbank setzte. Mein damaliges Klassenzimmer ist heute das Sekretariat. Mein Dank nochmals an die Vizedirektorin dafür, dass mir der Besuch der Schule gewährt wurde.

Zum Abschluss des gemeinsamen Tages besuchten wir auf dem Friedhof die Gedenkstätte für die verstorbenen Bürger von Stargard, die durch Flucht und Verfolgung ihr Leben in und um Stargard 1945 lassen mussten. Das Verarbeiten dieses Tages dauert immer noch an, zumal durch das Jahresblatt von 2008, welches mir Herr Grünbauer überreichte, weitere Erinnerungen wach wurden. Dafür, dass mir dieser Herzenswunsch erfüllt wurde und ich das noch erleben durfte, möchte ich mich nochmals bei Herrn Grünbauer und seiner Frau, aber auch bei meinen Kindern bedanken.

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